VON A BIS Z

Eugenijus Ališanka, Litauen
Andrej Bitow, Russland
Iso Camartin, Schweiz
Jan Christophersen , Deutschland
Anne Cuneo, Schweiz
György Dragoman, Ungarn
Daniel Goetsch, Schweiz
Judith Hermann, Deutschland
Anna Kim, Österreich
Pascale Kramer, Schweiz
Sibylle Lewitscharoff, Deutschland
Hugo Loetscher, Schweiz
Terézia Mora, Deutschland
Herta Müller, Deutschland
Véronique Olmi, Frankreich
Christine Pfammatter, Schweiz
Verena Rossbacher, Österreich
Joachim Sartorius, Deutschland
Jochen Schmidt, Deutschland
Daniel Schwartz, Schweiz
Peter Stamm, Schweiz
Aleš Šteger, Slowenien
Benedict Wells, Deutschland
Andrea Winkler, Österreich
John Wray, USA

Nachruf auf Gert Jonke



EUGENIJUS ALIŠANKA

Litauen ist ein Land der Lyrik, und Eugenijus Ališanka ist einer der wichtigsten unter den vielen Lyrikern seines Landes und zudem ein grosser Reisender, ein «poet on the road», der in seinen «ungeschriebenen geschichten» den europäischen Raum durchstreift und den Leser mitnimmt auf seine Tour d'Europe: Die Grande Place in Brüssel taucht in seinen Gedichten auf mit Horden besoffener Fussballfans, die Wasser der Seine mit ihren faltigen kleinen Wellen oder das Hotel Rossija in Moskau, das Sehnsucht weckt nach wüsten Gelagen. Eine Landkarte der Sinne ist es, die den Dichter durch den Kontinent leitet und ihn eintreten lässt in ein selbstironisches Nachdenken über seine Situation als litauischer Reisender («ein nachfahre von barbaren mit langen vom / wind zerzausten haaren europa erobernd») und als Schreibender in der heutigen Zeit. Die Atmosphäre europäischer Kultur und Literatur wird sinnlich greifbar.
Eugenijus Ališanka ist nicht nur einer der bedeutendsten litauischen Lyriker, Essayisten und Übersetzer, er ist auch ein Mittler zwischen den Kulturen, der die litauische Literatur in die Welt hinausträgt und die Welt hinein nach Litauen holt. Als langjähriger Organisator des Festivals «Frühling der Poesie» hat er viele weltbekannte Dichter nach Litauen geholt. Er wurde 1960 während der Verbannung seiner Eltern im russischen Barnaul geboren, unweit des Altai-Gebirges in Sibirien. Aufgewachsen ist er in Vilnius, wo er heute auch lebt. In den Gedichten dieses Lyrikers aus dem europäischen Osten werden neue und bereichernde Blicke auf unsere Geschichte geworfen.

ungeschriebene geschichten. Gedichte. DuMont Verlag 2005
Die Rückkehr des Dionysos.
Essays. Athena Verlag 2008



Andrej Bitow

Andrej Bitow, 1937 in Leningrad geboren, studierte Geologie und veröffentlicht seit 1959 Erzählungen, Essays, Romane und Reiseberichte. 1990 erhielt er den russischen Puschkin-Preis. Bitow, einer der wichtigsten Autoren Russlands, lebt heute in Moskau und St. Petersburg. Nach Leukerbad reist er zusammen mit Rosemarie Tietze, die seinen bekanntesten Roman «Das Puschkinhaus» 2007 neu ins Deutsche übersetzte.
In «Puschkinhaus», einem klassischen Entwicklungsroman, tauchen zentrale Gestalten, Motive und Fragen der russischen Literatur auf, es ist «auch eine Hymne auf die grosse russische Literatur des 19. Jahrhunderts» (Rosemarie Tietze).
Bereits im Herbst 1971 beendete Andrej Bitow «Das Puschkinhaus», erstmals publiziert wurde der Roman aber erst 1978, ohne Druckgenehmigung des Autors, was ein Berufsverbot für Andrej Bitow zur Folge hatte. Anfang der 1980er-Jahre wurde der Roman im Westen in Übersetzungen publiziert und viel gelesen, doch erst die Perestroika ermöglichte 1987 eine Neuveröffentlichung, die den Roman in Russland zu einem Klassiker der Gegenwart machte. 2007 erschien «Das Puschkinhaus» schliesslich erstmals vollständig und in der komplett neuen Übersetzung auf Deutsch.
Im Interview mit der Zeit antwortete Andrej Bitow auf die Frage, ob das Leben ihm etwas weggenommen habe: «Mutlosigkeit ist eine der grössten Sünden. (...) Die Welt ist fröhlicher als wir. Wir sterben, aber die Welt stirbt nicht.»

Das Puschkinhaus. Roman. Suhrkamp 2007
Armenische Lektionen. Suhrkamp 2002
Puschkins Hase. Insel Verlag 1999
Mensch in Landschaft. Insel Verlag 1999
Das Licht der Toten. Insel Verlag 1990

ISO CAMARTIN

Einem breiteren Publikum wurde Iso Camartin durch seine Tätigkeit beim Schweizer Fernsehen DRS bekannt, wo er die «Sternstunde» moderierte und bis 2003 Leiter der Kulturabteilung war. Er hat ausserdem in zahlreichen Jurys mitgewirkt, unter anderem beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. In seinen letzten Büchern erweist sich Iso Camartin als grossartiger, belesener Heimatreisender und Kulturvermittler. Sein jüngstes Buch, «Geschichten des Herrn Casparis», besser gesagt dessen Protagonist, der ältliche Bibliothekar Herr Casparis, entstand aus einer Einladung, ein Essay über das Thema «Heimat» zu schreiben. Herr Casparis entwickelte schnell ein Eigenleben und seine Gedanken führten – ausgehend von der Frage: «War Heimat also doch mehr die Frage nach dem Wohin als jene nach dem Woher?» – weit über die Grenzen einer einfachen Antwort hinaus.
«Die Deutschen und ihre Nachbarn»: Unter diesem Titel geben Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker gemeinsam eine auf zwölf Bände angelegte Reihe heraus, die den Deutschen Politik, Gesellschaft und Kultur ihrer europäischen Nachbarländer vorstellt. Iso Camartin hat für diese Reihe die Schweiz vorgestellt, mal schwärmerisch, mal mit Augenzwinkern und durchaus mit kritischem Blick. Iso Camartin lädt mit diesem sehr persönlichen Buch in seine Heimat ein und legt dar, was man wissen muss, wenn man das Land verstehen will. In seinem ganz eigenen Erzählstil hinterfragt er die Schweiz der Mythen und Klischees und erinnert daran, wie sehr der kulturelle Austausch mit den Nachbarn die Geschichte des Landes geprägt hat. Dabei zeigt sich, dass die Schweiz europäischer ist als manches Land der EU.

Die Geschichten des Herrn Casparis. Geschichten. Beck Verlag 2008
Die Deutschen und ihre Nachbarn: Schweiz. Beck Verlag 2008

ANNE CUNEO

Anne Cuneo wurde 1936 in Paris als Kind italienischer Eltern geboren. Nach Stationen in Italien, Lausanne und London emigrierte sie in die Schweiz. Sie studierte Englisch, Italienisch und Geschichte und erteilte zunächst Sprachunterricht. 1967 erschien ihre erste literarische Veröffentlichung und ab 1973 arbeitete sie in verschiedenen Funktionen beim Schweizer Fernsehen, veröffentlichte jedoch weiterhin zunächst autobiographische, später auch Detektivromane. Ausserdem arbeitete Anne Cuneo für Theater und Film und drehte seit 1980 rund ein Dutzend Dokumentarfilme.
In ihrem im Frühjahr auf Deutsch erschienenen Roman «Zaïda» verwebt Anne Cuneo Teile ihrer eigenen Lebensgeschichte mit anderen realen Biografien. Ihre Protagonistin Zaïda ist eine hundertjährige Dame, die ihre Lebensgeschichte für ihre gerade geborene Enkelin aufschreibt. Und es ist ein Leben, das zu erzählen sich lohnt: 1859 in eine gut betuchte englische Familie geboren, leidet Zaïda seit früher Kindheit unter ihrer strengen, kalten Mutter und nutzt die erste Gelegenheit, um aus dem Korsett der Konventionen auszubrechen. Sie studiert Medizin in Zürich und arbeitet entgegen aller Vorurteile als Ärztin, zunächst in England, später in Italien. Die Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte dieser starken Frau ist mehr als eine Biografie, es ist ein Abbild der gesellschaftlichen Umwälzungen und der weltpolitischen Umstürze, die Generationen geprägt haben und deren Auswirkungen bis heute spürbar sind.

Zaïda. Deutsch. Bilgerverlag 2009
Zaïda. Französische Erstveröffentlichung.
Verlag Bernard Campiche 2007
Hotel Herzschlag. 2004
Lisas Lächeln. 2000

GYÖRGY DRAGOMAN

György Dragomán war die literarische Entdeckung des letzten Herbstes. Mit seinem Roman «Der weisse König», der inzwischen in fünfzehn Sprachen übersetzt wurde, hat er bei Lesern wie bei Kritikern grosses Ansehen erhalten. In 18 Szenen richtet György Dragoman den naiven Blick eines Kindes auf eine kranke Gesellschaft. Der Vater wird von der Securitate abgeholt und in ein Arbeitslager deportiert. Die Mutter verliert ihren Job als Lehrerin, sie wird als Dissidentin und «jüdische Hure» beschimpft. Der Sohn, ein 11-jähriger Bub, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, ist in der Schule und auf der Strasse Gewalt, Schikanen und Psychoterror ausgesetzt. Es ist die Geschichte einer Kindheit in einer totalitären kommunistischen Diktatur in den 1980er-Jahren. Mit emotionaler Wucht und bedrohlicher Intensität erzählt György Dragoman von Gewalt und Verrat, von Brutalität, Zynismus, Niedertracht, Korruption, Erpressung, Angst und Verzweiflung. Doch der Autor zeichnet nicht nur ein düsteres Weltuntergangsszenario, sondern setzt mit der wunderbaren Anmut der Sprache des Ich-Erzählers, mit Sätzen, die teilweise über mehrere Seiten gehen und den Leser geradezu vorwärts treiben, einen Funken Hoffnung und so etwas wie Licht ans Ende des Tunnels.
György Dragomán ist 1973 in Siebenbürgen geboren und als Angehöriger der ungarischen Minderheit 1988 mit seinen Eltern nach Budapest ausgewandert. Er lebt seit nunmehr 20 Jahren in Ungarn und übersetzte Klassiker von Beckett oder Joyce, aber auch zeitgenössische englische Literatur ins Ungarische.

Der weisse König. Roman. Suhrkamp Verlag 2008

DANIEL GOETSCH

1968 in Zürich geboren und in Windisch und Nussbaumen aufgewachsen, wurde Daniel Goetsch nach einem erfolgreich beendeten Studium der Rechtswissenschaft in Zürich und Toulouse seit 1995 schriftstellerisch tätig. Er lebt heute in Berlin.
Daniel Goetsch schreibt Erzählungen, Dramen, Hörspiele und Romane. In seinem jüngsten Roman «Herz aus Sand» steht Frank im Mittelpunkt, ein Beobachter in einem UN-Flüchtlingscamp in der Westsahara, der sich vorgenommen hat, «etwas Gutes zu tun». Frank hat seine rechtstheoretische Dissertation zusammen mit seinen Erinnerungen an Alma, seiner grossen Liebe, hinter sich gelassen, wie auch alle anderen Beobachter im Camp ein Leben hinter sich gelassen haben. Doch die Erinnerungen kehren zu Frank zurück, als Duncker, ein Architekt mit grossen Plänen, auftaucht. Und dann ist Duncker eines Morgens tot. Selbstmord oder Mord – spielt das überhaupt eine Rolle in der Realität des Lagerlebens?
Das Tempo, das «Herz aus Sand» anschlägt, ist gemächlich und Daniel Goetsch fängt gerade durch diese sprachkräftige Gemächlichkeit die stille Verzweiflung seiner Figuren und die Monotonie ihres Daseins ein. Wie die Aargauer Zeitung schreibt: «Ein Buch, das aufwühlt und zum Augenöffner wird. Daniel Goetschs Roman spielt fernab jeder touristischen Wüstenromantik und trifft mitten ins globalisierte Herz.»

Herz aus Sand. Roman. Bilgerverlag 2009
Ben Kader. Roman. Bilgerverlag 2006
X. Roman. Bilgerverlag 2004

Judith Hermann

Nachdem sie zunächst Journalistin hatte werden wollen, entdeckte Judith Hermann das literarische Schreiben und insbesondere die Kurzgeschichte für sich. 1970 in Berlin-Tempelhof geboren, wurde Judith Hermann nach ihrem ersten Buch, «Sommerhaus, später»(1998), das von Kritikern wie Publikum gleichermassen begeistert aufgenommen und mittlerweile in 17 Sprachen übersetzt wurde, «zu Tode gelobt», wie sie selbst sagt. «Sommerhaus, später» führte zu einer Renaissance der Kurzgeschichte in der deutschsprachigen Literatur. Nach diesem Erfolg musste sie «lernen, mit dem Druck, der durch Verlage, Medien und Öffentlichkeit ausgeübt wurde, umzugehen.»
Mit ihrem 2003 erschienenen Erzählband «Nichts als Gespenster» und ihrem soeben erschienenen neuen Buch «Alice» setzt Judith Hermann ihr Talent zum Erzählen von Kurzgeschichten fort. Beeinflusst wird sie dabei nach wie vor von Raymond Carver. In «Alice» verwebt sie fünf Geschichten über das Sterben und den Umgang der Hinterbliebenen damit kunstvoll miteinander. Die NZZ ist begeistert: «Ihre Kunst besteht darin, das Schwere leicht erscheinen zu lassen und alles Endgültige gleichwohl in der Schwebe zu halten. (...) Von allem Hinderlichen und von allen Beschwernissen hat Judith Hermann diese Texte befreit, um ein Maximum an atmosphärischer Dichte zu erzielen, um mit Demut, aber ohne Pathos vom Sterben zu erzählen und von der Not des Zurückbleibens.»

Alice. S. Fischer Verlag 2009
Nicht als Gespenster. S. Fischer Verlag 2003
Sommerhaus, später. S. Fischer Verlag 1998

ANNA KIM

Wie oft wird von Literaturkritikern beklagt, dass junge Autoren wenig zu erzählen hätten, ihre Helden gelangweilte, weltfremde, zynische Halbintellektuelle seien, die vom wahren Leben nichts wüssten und dem Leser daher nichts zu sagen hätten. Anna Kim beweist in ihrem neuen Buch «Die gefrorene Zeit», dass dies so nicht stimmt. Sie erzählt darin von der Suche eines Kosovaren nach seiner verschwundenen Frau und vom allmählichen Eindringen der Ich-Erzählerin Nora, einer Mitarbeiterin des Suchdienstes des Roten Kreuzes, in die komplexen Zusammenhänge hinter den traumatisierenden Ereignissen. Nora lernt nicht nur das alltägliche Leben in den albanisch-serbischen Konfliktzonen des Kosovo kennen, die schockierende Arbeit der Archäologen, Rechtsmediziner und Anthropologen, es öffnen sich vor allem die Dimensionen von Erinnerung und Erinnerungsverlust, von unterbrochenen Biografien, von «gefrorener Zeit».
Für die Recherche zu diesem Roman ging Anna Kim von einem Buch der Gegenstände aus, einem Katalog mit Fotos von Gegenständen, die in Massengräbern gefunden wurden: Ausweise, lose eingesammelte Kleidungsstücke, kleine Dinge, die man in der Hosentasche mit sich trägt. Dieser Katalog habe sie auf die Spuren dessen gebracht, was das Kriegstrauma für Einzelpersonen bedeute. In Gesprächen mit Menschen aus dem Kosovo über deren Trauer habe sie eine Grenze kennen gelernt, an der man nicht weiter fragen, weiter sprechen kann. Diese Grenze zu überwinden, zum nächsten Satz vorzudringen, sei die wesentliche Erfahrung beim Schreiben gewesen. Anna Kim hat mit ihrem neuen Buch einen eindrucksvollen Text vorgelegt und hat für die Schrecken des Krieges ebenso eine adäquate Sprache gefunden wie für die Freuden und Kümmernisse des Alltags.

Die gefrorene Zeit. Roman. Droschl Verlag 2008
Die Bilderspur. Eine Künstlernovelle. Droschl Verlag 2004

TERÉZIA MORA

Die 1971 in Ungarn geborene Terézia Mora lebt seit 1990 in Berlin, wo sie Hungarologie und Theaterwissenschaft studierte und sich zur Drehbuchautorin ausbildete. Seit 1998 ist sie freie Schriftstellerin und übersetzt unter anderen Péter Esterhazy, Lajos Parti Nagy und Istvan Örkény ins Deutsche. Über ihre seltene Arbeit als Drehbuchautorin sagte sie in einem Interview mit «Literaturkritik»: «Wenn ich auf Quantität hätte gehen wollen: Meinen einzigen Fernsehkrimi haben sechs Millionen Leute gesehen. Das erreiche ich mit meiner Prosa nie, das weiss ich. Mit der Prosa erreiche ich anderes.»
Für ihre Bücher, in denen es «immer um den Zustand der Welt» geht, wurde Terézia Mora immer wieder mit Preisen ausgezeichnet: 1999 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis, mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und mit vielen weiteren mehr. Über ihren 2004 erschienenen Roman «Alle Tage» schrieb Verena Auffermann: «Alle Tage ist ein gottlos-gottvolles Buch über die Liebe und die Liebe zur Sprache, es steckt voller Wissen, Anspielungen, Fragen, Distanzierungen, Perspektivverschiebungen, Ironie. (...) Eine grosse Leistung.»
Nach 2000 und 2005 reist Terézia Mora in diesem Jahr bereits zum dritten Mal ans Literaturfestival nach Leukerbad. Und wieder hat sie im Gepäck ein neues Buch, einen wundervollen Roman: «Der einzige Mann auf dem Kontinent», laut der Autorin selbst «auch wieder so ein Riesending, wie Alle Tage. Über das Universum und den ganzen Rest.»

Der einzige Mann auf dem Kontinent. Roman. Luchterhand, August 2009
Alle Tage. Roman. Luchterhand 2004
Seltsame Materie. Erzählungen. Luchterhand 1999

HERTA MÜLLER

Herta Müller wurde 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf in Rumänien geboren. Nach dem Studium der deutschen und rumänischen Philologie arbeitete sie als Übersetzerin. Sie wurde entlassen, weil sie sich weigerte, für den rumänischen Geheimdienst zu arbeiten. In der Folge wurde sie immer wieder verhört und bedroht, konnte ihre Bücher nur zensiert, später gar nicht mehr in Rumänien veröffentlichen. 1987 siedelte Herta Müller nach Deutschland über. Heute lebt sie in Berlin. Zwischen 1989 und 2001 hatte sie verschiedene Gastprofessuren an Universitäten in England, Amerika, in der Schweiz und in Deutschland inne. Seit 1995 ist Herta Müller Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Literarisch ist Herta Müller so vielfältig wie wenige andere. Sie schreibt scharfsinnige Essays, sprachtheoretisch brillante Abhandlungen, unverwechselbare Romane und kraftvolle Lyrik, der sie in teils naiv anmutenden Collagen einen Rahmen gibt, der den kritischen Leser zum faszinierten Betrachter und den erstaunten Betrachter zum begeisterten Leser macht. Verwunderung und Begeisterung vermag Herta Müller immer wieder durch ihren Sprachstil, aber auch durch die Komposition ihrer Figuren und Schauplätze hervorzurufen.
Herta Müller hat unter dem Arbeitstitel «Atemschaukel» zusammen mit dem 2006 verstorbenen Lyriker Oskar Pastior die Deportation von Rumäniendeutschen in die Sowjetunion zwischen 1945 und 1950 rekonstruiert und wird dieses Werk am Literaturfestival Leukerbad erstmals vorstellen.

Atemschaukel (Werktitel).
Der Fuchs war damals schon der Jäger.
Roman. Hanser. Neuauflage 2009
Die blassen Herren mit den Mokkatassen. Gedichte. Hanser 2005
Der König verneigt sich und tötet. Hanser 2003

VÉRONIQUE OLMI

Véronique Olmi wurde 1962 in Nizza geboren und lebt heute mit ihren zwei Kindern in Paris. In Frankreich wurde sie als eine der bekanntesten Dramatikerinnen des Landes mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Seit 1990 hat die ausgebildete Schauspielerin zwölf Theaterstücke verfasst, wobei sie am Anfang bei deren Aufführung auch selbst auf der Bühne stand und/oder Regie führte. Ihre Theaterstücke wurden in viele Sprachen übersetzt; einige Stücke liegen auch in deutscher Übersetzung vor und wurden und werden in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgeführt.
In ihren Büchern dreht sich alles um die meist versteckten, dunklen Seiten der scheinbaren Normalität. Ohne sich in Detailbeschreibungen zu verlieren, gelingt es ihr gerade durch das Ungesagte, die Leserschaft in den Bann ihrer eindringlichen Sprache zu ziehen. In der «Zeit» war über sie zu lesen: «Sie ist durchaus eine würdige Nachfolgerin der französischen Moralisten. Ihr geht es darum, zu erkennen, wie schnell man aus dem Leben eine Bühne gemacht, sich selbst in einer dargebotenen Rolle versteckt hat.»
Bereits im vergangen Jahr wollte Véronique Olmi ans Festival kommen, musste ihre Teilnahme jedoch kurzfristig absagen. Umso mehr freuen wir uns, dass sie in diesem Jahr mit ihrem gerade auf Deutsch erschienenen Roman «Die Promenade» ans Festival reisen wird.

Die Promenade. Roman. Kunstmann 2009
Ihre Leidenschaft. Roman. Kunstmann 2007
Ein Mann, eine Frau. Roman. Kunstmann 2006
Meeresrand. Roman. Kunstmann 2006
Eine so schöne Zukunft. Roman. Kunstmann 2004
Nummer sechs. Roman. Kunstmann 2003
Der Riss. Letzter Sommer. Magali. Stücke und Materialien.
Suhrkamp Verlag 2002

JOACHIM SARTORIUS

Joachim Sartorius ist Lyriker, Essayist und Herausgeber der gesammelten Werke von Malcolm Lowry und William Carlos Williams. Er ist Übersetzer unter anderem von. John Ashbery, Wallace Stevens und E.E. Cummings und hat den «Atlas der neuen Poesie» herausgegeben. Er war zwei Jahrzehnte lang im diplomatischen Dienst in New York, Istanbul, Prag und Zypern tätig und war danach Generalsekretär des Goethe-Instituts. Heute leitet er die Berliner Festspiele.
Es gibt kaum einen mächtigeren Vermittler von und in der Lyrik als Joachim Sartorius. Reisen zwischen Kontinenten, Kulturen und Epochen, Begegnungen und Lektüren prägen sein Werk und er zeigt auf, dass die Lyrik nicht eine europäische Angelegenheit ist. Wie kaum ein anderer verbindet er das Bild und die Sprache des Einzelnen mit der Welt. In seinen Arbeiten über Poesie widerlegt er eindrücklich die Vermutung, es gebe «Weltpoesie» oder «Weltpoetik» oder gar ein «Museum der modernen Poesie»: «Was die vielen verschiedenen Sprachen und die vielen fremden Poesien in diesen auf herrlich unbestreitbare Weise zeigen, ist die ungeheure Verschiedenheit von allem, ist der Reichtum, dass jedes Gedicht eines anderen anders und fremd und ausschliesslich auf seine Weise da ist.» In seinem neuen Gedichtband «Hôtel des Étrangers» sind seine grossen Themen einmal mehr wunderbar präsent: die Sinnlichkeit und die Vergänglichkeit, die körperliche Liebe und ihr grosser Bruder, der Tod. Die «Städte des Ostens» sind fremde Orte, Grenzübergänge zu intimen Topographien; sie führen in ein riskantes, exquisites Metapherngelände. Das Reisen, das schmerzlich intensive Erinnern und das Meditieren «am Arbeitsplatz» sind für Joachim Sartorius allesamt vielschichtiger Ausdruck für das Schreiben und geben Antwort auf die von ihm hartnäckig gestellte Frage nach dem besonderen Ort, den das Gedicht bereit stellt.

Die Prinzeninseln. Ein Reisebuch. mareverlag 2009
Hôtel des Étrangers. Gedichte. Kiepenheuer&Witsch Verlag 2008
Das Innere der Schiffe. Zwischen Wort und Bild. DuMont Verlag 2006

DANIEL SCHWARTZ

Daniel Schwartz, geboren 1955, lebt in Zürich und ist ein international bekannter und ausstellender Fotograf und langjähriger Mitarbeiter der Schweizer Kulturzeitschrift «du». Im letzten Herbst hat er ein fulminantes Buch mit über tausend Seiten, «Schnee in Samarkand. Ein Reisebericht aus dreitausend Jahren», vorgelegt. Ein Buch, das ein in dieser Form noch nie dagewesenes Unterfangen darstellt: Es ist der Versuch, räumlich und zeitlich zugleich zu reisen, die Gegenwart aus der Vergangenheit heraus zu sehen und den Blick von Chinesen, Persern, Europäern und Arabern auf den jeweils fremden Anderen zu verstehen. Mit diesem Buch, das Reiseschilderung, Geschichtsbuch und Kulturgeschichte in einem ist, sprengt Daniel Schwartz, was bisher in diesem Genre geschrieben wurde, man denke an Autoren wie Paul Theroux, Cees Nooteboom, V.S. Naipaul oder Ryszard Kapuscinski. Als erster Ausländer folgte Daniel Schwartz 1987 der Grossen Mauer Chinas in ihrer vollen Länge. Dann liess ihn das endlose Grenzland nicht mehr los, in dem die grossen Kulturen der Welt sich seit Jahrtausenden befruchten und bekriegen. Daniel Schwartz benennt mit seinen «Geschichtsbildern» prekäres Menschendasein, konstante existenzielle Unsicherheit, und er deutet die tiefgreifenden Asymmetrien und tradierten Missverständnisse, die infolge der machtpolitischen Entwicklungen nach dem 11. September im Hinterland der Kriege von Tag zu Tag augenfälliger werden. Eine von Daniel Schwartz konzipierte und von Simon Maurer kuratierte Ausstellung war im Helmhaus Zürich zu sehen und weilt von Juni bis Oktober 2010 im Martin-Gropius-Bau, Berlin.

Geschichten von der Globalisierung.
Daniel Schwartz (Hrsg.). Steidl Verlag 2003
Schnee in Samarkand.
Ein Reisebericht aus dreitausend Jahren. Eichborn 2008

Zur erwähnten Ausstellung ist bei Thames & Hudson (London 2009) das gleichnamige «Artist Book» mit 165 Fotografien erschienen.

ALEŠ ŠTEGER

Geboren wurde der Lyriker, Essayist und Übersetzer Aleš Štegers 1973 in der kleinen Stadt Ptuj, in jener Gegend, die Peter Handke gern als zauberische Ursprungswelt beschrieb. Seine Texte sind kleine Balancestücke, die ihre Wörter immer wieder in ein labiles Gleichgewicht bringen. Oft genügt ein kurzer Einschub, eine Drehung oder ein Wechsel des Rhythmus – schon werden die Verse neu ausgerichtet. Dabei ist es Aleš Štegers Kunst, mit seinen Bildern die Vorstellungen des Lesers flugs aus den Angeln zu heben. Am Ende weiss man gar nicht mehr, was eigentlich zuerst da war, das Wort «Kater» oder Stegers Bild vom «kastrierten Travestit im Nerz». Oder ob eine Büroklammer wirklich wie eine Büroklammer aussieht und nicht «wie ein Fötus / wie eine Wegschnecke, wie ein Körper im Massengrab». Die Form seiner Gedichte ist in die gedankliche Bewegung genau eingepasst. Wenn Aleš Štegers seine Gedichte mit weicher Stimme vorträgt, langsam, ganz versunken in den Text, möchte man als Hörer noch einmal an die alte Verwandlungskraft der Poesie glauben.
Auch wenn der Leser mit Aleš Štegers letztem Buch «Preußenpark, Berliner Skizzen» durch Berlin flaniert, wird er ein anderes, ein poetisches Berlin wahrnehmen. Aufgeladen mit Bedeutung, überreich an Gedächtnis, erfüllt mit den Stimmen derer, die vor ihm da waren, fordern sie das poetische Erkenntnisvermögen heraus. In dreissig Prosastücken und lyrischen Miniaturessays hält er fest, was er in Berlin sah und hörte. Hier wird die Fremdheit zu einer sinnlichen und produktiven Wahrnehmung, wie sie nur einem Lyriker von Stegers poetischer und intellektueller Begabung gelingen kann.

Preußenpark. Berliner Skizzen. Essays. Suhrkamp 2009
Buch der Dinge. Gedichte. Suhrkamp 2006
Zu zweit nirgendwo. Herausgegeben von Aleš Šteger.
Neue Erzählungen aus Slowenien. Suhrkamp 2006

BENEDICT WELLS

Benedict Wells wurde 1984 in München geboren, ging nach dem Abitur nach Berlin und beschloss das zu tun, was er wollte: Schriftsteller werden. Was sich nach einem naiven Jugendtraum mit absehbar unschönem Erwachen anhört, ist in diesem Fall wahr geworden. In seinem ersten Roman «Becks letzter Sommer» rückt Benedict Wells seinem Protagonisten Robert Beck, einem unzufriedenen Gymnasiallehrer, den Jugendtraum wieder in greifbare Nähe: eine Karriere im Musikgeschäft. Ein neuer Schüler entpuppt sich als musikalisches Genie, der Lehrer sieht sich als zukünftigen Manager. Zu lesen, wie Benedict Wells «seinen» Lehrer dazu bringt mit Charlie, einem alten Bandkollegen, und Rauli, dem Musikgenie, mit dem Auto zu einer Reise nach Istanbul aufzubrechen, ist ein grosses Vergnügen. Selbstverständlich, dass die Liebe dabei eine entscheidende Rolle spielt. Doch das Buch ist mehr als ein sicher geschriebenes Roadmovie. Benedict Wells spielt mit seinen Lesern; immer wenn sie zu wissen glauben, wo Charlie, Beck und Rauli am Ende landen werden, taucht Ben, ein Alter Ego des Autors, auf, es wird geschossen oder Benedict Wells nimmt die Leser mit auf die Suche nach dem passenden Ende für seine schillernden Gestalten.
Mit seinen 24 Jahren ist Benedict Wells der jüngste Autor im Diogenes-Verlag – und mit zum Besten gehört, dass er zwei Bücher parallel geschrieben hat und gerade an seinem dritten arbeitet. Für Nachschub ist also gesorgt.

Becks letzter Sommer. Roman. Diogenes 2008
Spinner. Diogenes 2009 (erscheint im August 2009)

Andrea Winkler

Die Autorin gehört zu den interessantesten und eigensinnigsten literarischen Stimmen der österreichischen Gegenwartsliteratur. Sie verwebt Inhalt und Sprache zu einer poetischen Textur, in der sie existenzielle Fragen nach Erinnern und Vergessen wie schwerelos mit sich führt. Die erstaunliche Stilsicherheit und der eigene Ton sind schon bei Andrea Winklers Debütband "Arme Närrchen" aufgefallen, und in "Hanna und ich" kann man dem wieder begegnen. Es gibt Bücher, die eine Geschichte erzählen, und es gibt solche, die eine Geschichte suchen. Das ist nicht weniger spannend, aber für Autorin und Leser der schwierigere Weg.
Andrea Winkler hebt sich mit ihrer Erzählweise deutlich von einem Grossteil der Literatur dieser Jahre ab, die sehr selbstverständlich den erzählbaren Geschichten vertraut. Sie präsentiert in ihrem zweiten Prosaband «Hanna und ich» Figuren, auf die «kein Verlass ist». Fünf Akteure bevölkern die Erzählbühne – Hanna, Rio, Lea, Herr Emm und die Erzählstimme – und entziehen sich immer wieder einem klaren Zugriff. Oft sind es Gesten und Formulierungen, an denen sie kenntlich werden, aber selbst die können mitunter zwischen den Figuren changieren. Es sind szenische Variationen mit wechselnden Blickrichtungen, komponiert und angeordnet nach einem strengen Bauschema. Damit zeigt Andrea Winkler, dass sie den gängigen Erzählzusammenhang nicht etwa aus einem ideologischen Erzählverbot heraus verweigert, sondern aus der fundamentalen Erfahrung, dass die Zusammenhänge verletzt sind, angegriffen, und dass es einem immer wieder aus ihnen hinauswirft – im Leben wie im Text.

Hanna und ich. Droschl Verlag 2008
Arme Närrchen. Selbstgespräche. Droschl Verlag 2006

Pascale Kramer

Pascale Kramer schreibt in ihren Romanen über die Welt erstarrter Paarbeziehungen, die in der Gewohnheit und Mittelmässigkeit und in subtiler Gewalt gefangen sind. Von Anfang an ist es da, dieses schleichende Unbehagen in den Romanen von Pascale Kramer. Erst sind es eher die Orte oder das Klima in ihren Büchern, die dieses Gefühl entstehen lassen. Die Häuser sind baufällig, die Strassen sind staubig, die Luft ist stickig und schwül. Fliesst ein Fluss vorbei, ist er gleich voll mit Schlamm. Pascale Kramer beschreibt das trostlose Dasein im Mittelmässigen fernab von Romantik und TV-Lebensläufen in einer sehr eindringlichen und präzisen Art. Die kleinen Details aufzuspüren, die so voller Bedeutung stecken, dies gelingt Pascale Kramer meisterhaft. Die vielen unscheinbaren Dinge werden weniger durch Worte als durch Gesten enthüllt, damit verraten die Menschen sich. Und sie achtet auf diese Details, zum Beispiel darauf, wie sich die Stimmung in kürzester Zeit verändern kann, wie die Laune manchmal innerhalb von nur einer Minute umschlägt. In ihrem letzten Roman beschreibt Pascale Kramer die Geschichte einer zerstörerischen Liebe, die sie in sinnlichen Bildern einer erotisch aufgeladenen Atmosphäre aus Wut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erzählt. «Abschied vom Norden» ist die poetische Geschichte einer zum Scheitern verurteilten Liebe zwischen schmerzlichem Glück und rauher Zärtlichkeit.

Abschied vom Norden. Roman. Arche Verlag 2007
Zurück. Roman. Arche Verlag 2004
Die Lebenden. Roman. Arche Verlag 2003

Sibylle Lewitscharoff

Bereits zum dritten Mal nach 2000 und 2003 reist die 1954 in Stuttgart geborene Sibylle Lewitscharoff ans Literaturfestival in Leukerbad – in diesem Jahr als Trägerin des Spycher: Literaturpreis Leuk 2009 (siehe Seite 40). Im Gepäck hat sie ihren Roman «Apostoloff», der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Sibylle Lewitscharoff, die Religionswissenschaften studierte und heute als Buchhalterin einer Werbeagentur in Berlin arbeitet, begann ihre schriftstellerische Tätigkeit mit dem Verfassen von Radio-Features und Hörspielen. 1998 gelang ihr der Durchbruch; sie erhielt den Ingeborg-Bachmann-Preis für ihren Roman «Pong». In ihrem literarischen und essayistischen Schaffen zeigt sie sich so humorbegabt und vielseitig wie wenige andere. In «Apostoloff» verarbeitet Sibylle Lewitscharoff ihre bulgarischen Wurzeln – ihr Vater stammt aus Bulgarien – zu einer rabenschwarzen, erzkomischen Suada. Zwei Schwestern sind auf dem Weg von Stuttgart-Degerloch nach Bulgarien, um den toten Vater zurück zu bringen in sein Heimatland. Ihr Fahrer, Rumen Apostoloff, versucht ihnen die Schönheit des Landes näher zu bringen, doch die Ich-Erzählerin sieht nur die von den Folgen des Kommunismus beschädigten Städte, Dörfer und Menschen und bedenkt diese mit wunderbar ätzenden Kommentaren. Sibylle Lewitscharoff, die selbst kein Wort Bulgarisch spricht und den Roman einem Vetter gewidmet hat, der sie als Dolmetscher begleitete, gelingt es mit diesem Roman, «die Konzepte von Herkunft, Nation und Vaterland in Frage zu stellen und sie strebt danach, die geistige Enge zu überwinden, die diese Begriffe erzeugen können», wie Tilman Krause in der «Welt» konstatiert.

Apostoloff. Roman. Suhrkamp 2009
Consommatus. Roman. DVA 2006
Montgomery. Roman. DVA 2003
Der höfliche Harald. Berlin Verlag 1999

Hugo Loetscher

Hugo Loetscher hat eine ganze Ära des schweizerischen Intellektuellenlebens mitgeprägt. Er ist ein grossartiger und ausschweifender Erzähler, ein geistreicher Plauderer und zugleich ein Sprachskeptiker, unersättlicher Denker und Reisender – zweifellos der Weltmann unter den Schweizer Literaten. Für Hugo Loetscher, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiern kann, waren Literatur und Journalismus, Kultur und Politik nie Gegensätze. Er fühlt sich an der Limmat ebenso zu Hause wie am Amazonas. Von seinen Reisen kehrt er immer wieder nach Zürich zurück, und seine Bücher und Reportagen sind geprägt von der Er-Fahrung des Fremden und des Vertrauten.
Hugo Loetscher überschreitet durchaus im wörtlichen Sinne Grenzen. Er ist Kosmopolit. Was vielen suspekt ist, dass die Schweiz in der Welt ist und die Welt in der Schweiz, verkörpert er. Die kulturelle Globalisierung nimmt in ihm Gestalt an. Hugo Loetscher, dem weitgereisten Kosmopoliten, gelingt es, uns mit seinen Texten die Schweiz und ihr Verhältnis zur Welt immer wieder aus einem neuen Blickwinkel zu zeigen.
Hugo Loetscher, bereits zum zweiten Mal am Festival, wird seinen im Herbst erscheinenden neuen Roman vorstellen und zusammen mit dem Weltfotografen Daniel Schwartz ein Gespräch über Fotografie und Reisen führen. «Die heile Welt zu Hause war nie so heil, wie wir meinten und es uns lieb gewesen wäre. Und am Unheil der Welt partizipierten wir längst, ob wir mochten oder nicht. Dass solche Erkenntnis sichtbar wurde, ist ein Verdienst der Fotografen.» (Hugo Loetscher)

War meine Zeit meine Zeit. Roman. Diogenes 2009 (erscheint im August 2009)
Es war einmal die Welt. Gedichte. Diogenes 2004
Lesen statt klettern. Aufsätze. Diogenes 2003

Christine Pfammatter

Christine Pfammater wurde 1969 in Leuk-Stadt geboren und lebt heute als Schriftstellerin in Berlin. Nach einem Studium der Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte in Bern und Fribourg lebte sie für einige Zeit in Paris und New York.
Nach Veröffentlichungen in manuskripte, entwürfe, ndl, Nord-Süd-Passage sowie in der Anthologie «Natürlich die Schweizer!» erschien 2008 ihr Erzählband «Zuviel Sonne», über den die «Stuttgarter Nachrichten» urteilten: "Augenzwinkernd, kritisch, spannend, eingängig und amüsant.".
«Zuviel Sonne», eine Sammlung von Erzählungen, ist eigentlich eine Sammlung von Textminiaturen, in denen Christine Pfammatter beiläufige Beobachtungen eines urbanen Lebens in Literatur verwandelt. Christine Pfammatter erfindet ihre Geschichten nicht, sie findet sie: auf den Strassen, in sich selbst und in den Menschen, denen sie Tag für Tag begegnet. Ihre Sprache ist dabei einfach schlicht und eher knapp.
«Wie wir vom Wetter sprechen, so schreibt Christine Pfammatter vom Leben. (...) Aber das Schreiben kann den Windigkeiten und Verblendungen des Alltags nicht entgegenstehen, es kann sie nicht grösser oder kleiner machen, als sie sind, es muss sie aufnehmen, in sich ›aufheben‹ und aus sich heraus neu ›erzählen‹, auf dass uns das scheinbar Bekannte, das Banale und das Profane auf wundersame Weise befremde und fasziniere.» (Reto Sorg über «Zuviel Sonne»)
Die Autorin lebt und arbeitet seit dem April 2009 für ein halbes Jahr in der Künstlerwohnung im Chretzeturm in Stein am Rhein.

Zuviel Sonne. Erzählungen. Erata Literaturverlag 2008
Natürlich die Schweizer. Herausgegeben von Reto Sorg. Mit einem Beitrag von Christine Pfammater. Aufbau Taschenbuch 2002

Verena Rossbacher

Verena Rossbacher, Jahrgang 1979, demonstriert in ihrem grossartigen Debütroman «Verlangen nach Drachen», dass einfach zu vergessen das Schwerste überhaupt ist. Ihr Roman ist ein Buch über das Aufhören-Müssen und das nicht Aufhören-Können, über das ganz banale Ende von Gefühlen, die eigentlich nicht banal sein sollten. Wer das Banale verabscheut, wird ganz von selbst ein Verlangen nach Drachen verspüren. Es ist ein vielstimmiger, dichter Roman über Verwandlungen, Erinnerungen, Verwirrungen, über Beziehungen und Störungen, ein herrliches komisches, phantastisches, skurriles Debüt, zugleich klug, nachdenklich und ernst.Ergebnis Ein Roman in sieben Kapiteln über Klara und ihre Männer, über das Aufkeimen und das Verlöschen von Zuneigung, über den Rausch der ersten Verliebtheit und die Ernüchterung, wenn man feststellt, dass man sich geirrt hat. Exzentriker, Narren und Vernarrte sind sie allesamt, die Männer, die um Klara kreisen und die ihr Glück irgendwo zwischen den Polen des Ursprünglichen und des Genialen, zwischen der Natur und der Musik (Vorstellung) zu finden hoffen. Es sind Geschichten über das Scheitern, die Verena Rossbacher in ihrem Roman erzählt, und in jeder Geschichte tritt ein anderer von Klaras Männern in den Vordergrund. Verena Rossbacher vermag es, ihren Sätzen durch Einschübe und Umstellungen eine zuweilen wie aus der Zeit gefallene Melodie zu verleihen. Sie lässt eine wie in Dunst getauchte Atmosphäre entstehen, die ihre Figuren und deren eigenartiges Verlorensein in der Welt auf wunderbare Weise sinnlich macht.

Verlangen nach Drachen. Roman. KIpenheuer & Witsch 2009

Jochen Schmidt

Der 1970 in Berlin geborene Jochen Schmidt gehört zum festen Kern der Berliner Lesebühne «Chaussee der Enthusiasten», an dessen Gründung er 1999 beteiligt war. Seine mit mindestens zur Hälfte realem Schmidtanteil ausgestatteten Ich-Erzähler stolpern durchs Leben ohne zu verstehen, wer da stolpert.
Im Juli 2006 begann Jochen Schmidt, täglich 20 Seiten «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust zu lesen und seine Gedanken zum Buch und seine Erlebnisse während der Lektüre im Internet in einem Blog zu veröffentlichen. Der Reiz bestand in der Gegenüberstellung der Welt eines heutigen Lesers und der damaligen Welt von Marcel Proust. Dieses einzigartige literarische Projekt entwickelte sich dann zweigleisig: Aufzeichnungen zu Schmidts Leben während der Lektüre – Reisen, Arbeit, Alltag – spiegeln sich in den Aufzeichnungen zum Gelesenen, das klug nacherzählt, zitiert und kommentiert wird. Der tagebuchartige Teil der täglichen Notizen widmet sich den alltäglichen Erfahrungen des Schriftstellers, dessen Wahrnehmung aber mit der Zeit durch die Proust-Lektüre beeinflusst wird. Es geht u.a. um «Ost und West, den Stasibericht über seine Mutter, kaputte Haushaltsgeräte, widerspenstige Computer, mögliche Gekränktheiten im Umgang mit anderen Menschen.
Jochen Schmidt hat die Fähigkeit, mit wenigen Sätzen ein Panoptikum von skurrilen Figuren oder eine absurde Situation zu skizzieren und darzustellen.
Er zeigt eine erfrischende Art, etwa über das Erwachsenwerden seines Helden zu schreiben, das sich etwas länger hinzieht als geplant, oder sich auseinanderzusetzen mit der Fantasie und Philsophie des Alltags, mit den eigenen Körperfunktionen. Mit einem gut ausgebildeten Spürsinn fürs Pathologische erkundet Jochen Schmidt auch den dunklen Kontinent des Körpers.

Schmidt liest Proust. Voland & Quist Verlag 2009
Meine wichtigsten Körperfunktionen. C.H. Beck Verlag 2007
Müller haut uns raus. Roman. C.H. Beck Verlag 2002

John Wray

Der 1971 geborene New Yorker ist einer jener Autoren, die Insider immer wieder nennen, wenn man sie fragt, wer denn wohl künftig eine herausragende Rolle spielen werde in der amerikanischen Literatur.
John Wray ist 1971 in Washington geboren; sein Vater ist Amerikaner, seine Mutter Österreicherin. Sein neuester Roman, «Retter der Welt», der gleichzeitig mit der amerikanischen Ausgabe bei Rowohlt erschienen ist, liefert ein bedrückend authentisches Porträt eines jungen Mannes, der aus der Anstalt, in der er wegen manischer Schizophrenie behandelt wurde, ausgebrochen ist.
John Wray gelingt mit «Retter der Welt» ein atemberaubender, klaustrophobischer Roman über unsere wahnwitzige Wirklichkeit – ein Psycho-Thriller, der in Hochgeschwindigkeit ungebremst seinem packenden Ende entgegenrast wie ein führerloser Zug auf einer Reise durchs Schattenreich von New Yorks Subway. Eine verzweifelte Flucht im U-Bahn-Netz durch eine Unterwelt aus Dunkelheit, Schmutz, Hitze und Lärm. John Wray erzeugt Spannung und Aufmerksamkeit, aber kein Mitgefühl im herkömmlichen Sinne, weil sein Protagonist kein Leidender ist. Eine irrwitzige Vision treibt ihn an: Er sei auserwählt, die Welt vor dem nahenden Klima-Kollaps zu retten. Nur eine Möglichkeit bestehe, den Katastrophenprozess noch umzukehren, nämlich der Vollzug eines einzigen, grossen, erfüllenden Liebesaktes. Nur so, davon ist er fest überzeugt, lässt sich sein eigener ultrahocherhitzter Gefühlshaushalt abkühlen – und mit ihm die Atmosphäre dieser Welt.

Retter der Welt. Roman. Rowohlt Verlag 2009
Die rechte Hand des Schlafes. Roman. Berlin Verlag 2002

Nachruf auf Gert Jonke

Geboren 1946 in Klagenfurt; gestorben am 4. Januar 2009 in Wien.

Gert Jonke war zweimal zu Gast am Festival in Leukerbad, und wer eine seiner Lesungen erleben durfte, wird seine einmalige und mitreissende Vortragskunst kaum jemals vergessen. Seine Mischung aus kritischem Humor und nahezu uneingeschränkter poetischer Sprachkraft ist unnachahmlich; sein Einfallsreichtum und seine sprachliche Erfindungskraft machten ihn zu einer einzigartigen und unverwechselbaren Stimme der Gegenwartsliteratur. Gert Jonke war dabei ein unermüdlicher Experimentator, der die Sprache immer wieder zerlegte und neu zusammensetzte. In den vergangenen Jahren hatte er den Schwerpunkt seines Schreibens auf das Theater verlegt.
«Er konnte aus zwei, drei notierten Worten ein ganzes Universum entstehen lassen. Wie ein grosser Jazzmusiker, der aus einem kleinen Thema eine raffiniert sich verzweigende Improvisation zu Stande bringen kann. Und er war ein genialer Vorleser seiner Texte», schreibt Elfriede Jelinek.

Ich habe Gert zum letzten Mal Ende November in Wien getroffen. Zu diesem Zeitpunkt war er noch optimistisch, dass er die Krankheit in den Griff bekommen würde. In seinen letzten Wochen hat Gert noch zahlreiche Termine wahrgenommen; unter anderem wurde er zum dritten Mal mit dem «Nestroy»-Autorenpreis ausgezeichnet.
Sein früher Tod kam überraschend und ist ein schmerzlicher Verlust. Es tut weh, dass ein so grossartiger und humorvoller Sprachkünstler vorzeitig gegangen ist.
Seine langjährige Lebenspartnerin, die Filmemacherin Ingrid Ahrer, hat in den letzten Jahren, zusammen mit Martin Polasek ein einfühlsames und poetisches Portrait über Gert Jonke gedreht: Der Film «Reise zum unerforschten Grund des Horizonts – ein Portrait des Dichters Gert Jonke», der im ORF und in 3Sat ausgestrahlt wurde, hat den österreichischen Fernsehpreis 2008 in der Sparte Dokumentation bekommen. Ingrid Ahrer und Martin Polasek werden dieses wunderbare und eindrückliche Filmportrait über Gert am Festival vorstellen und in uns dadurch die Erinnerung an ein ganzes Universum von Romanen, Gedichten, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern lebendig halten.
Hans Ruprecht

MARTIN POLASEK, TV- und Theaterregisseur, Jg. 1955, lebt in Wien.
Zahlreiche Live-Inszenierungen von kulturellen Events, Adaptionen von Theaterproduktionen für das Fernsehen, Festspielübertragungen, Konzertübertragungen, kulturelle Spezialprogramme. TV-Dokumentationen, Feuilletons, Menschenbilder, Künstlerportraits.
Dozent für Videogestaltung und Regie an der Zürcher Hochschule der Künste.

INGRID AHRER, geboren in Kärnten. Lebt in Wien. Regisseurin, Dramaturgin, Schauspielerin. Lebenspartnerin von Gert Jonke. Verwirklichte verschiedene Kunstprojekte mit ihm und über ihn.

Peter Stamm

Der 1963 geborene Peter Stamm ist einer der erfolgreichsten jüngeren Autoren der Schweizer Gegenwartsliteratur. Nach einer KV-Lehre begann er ein Studium der Anglistik und Psychologie, das er allerdings nach wenigen Semestern abbrach. Seit 1990 arbeitet er als Schriftsteller und freier Journalist. Neben seiner Arbeit als Journalist begann er Theaterstücke und Hörspiele für Radio DRS, Radio Bremen, den WDR und den Südwest Rundfunk zu schreiben Der literarische Durchbruch gelang ihm 1998 mit seinem ersten Roman «Agnes». Es folgten 1999 der Erzählband «Blitzeis», 2001 der Roman «Ungefähre Landschaft», 2003 die Erzählungen «In fremden Gärten», 2006 der Roman «An einem Tag wie diesem» und der Erzählband «Wir fliegen».
Peter Stamm erzählt stets sorgfältig und unaufgeregt; was ihn interessiert, sind nicht die grossen Gefühle, sondern Momente aus dem alltäglichen Leben. Zwar scheinen seine Figuren oft Suchende, doch sind seine Geschichten nie reisserisch, sondern erzählen in einer nüchternen, kühlen Sprache von dieser Suche, ohne plakative Antworten zu geben. Es bleibt dem Leser überlassen, die Bilder, die Peter Stamm schafft, mit eigenen Emotionen zu füllen. Peter Stamm ist ein genauer Beobachter; seinen präzisen und unspektakulären Schilderungen gelingt, die Lesenden zur Identifikation mit Stamms Figuren zu verführen oder Erinnerungen aus ihrem eigenen Leben wachzurufen. Peter Stamm wird sein neuen Roman «Sieben Jahre», der anfangs August erscheint, in Leukerbad vorstellen.

Sieben Jahre. Roman. Fischer Verlag. August 2009
Heidi. Mit Bildern von Hannes Binder. Nach Johanna Spyri.
Nagel & Kimche 2008
Wir fliegen. Erzählungen. Fischer Verlag 2008

Jan Christophersen

Jan Christophersen, 1974 in Flensburg geboren, lebt mit seiner Familie bei Schleswig.
Sein Romandebüt «Schneetage» beginnt mit einer Radiomeldung. Schnee war vorausgesagt worden. Fröste und Sturm. Was macht man im Norden, hinterm Deich, wenn es Winter ist, bitterkalt und so eine Meldung aus dem Radio tönt? Man rückt zusammen – und gießt einen heißen Tee nach.
Über Norddeutschland tobt ein Schneesturm, von dem die Menschen bis heute erzählen.
Es braucht nur zwei, drei Sätze – und schon ist man mittendrin in der Handlung dieses Buchs. Man schreibt das Jahr 1978, den Tag vor dem Jahreswechsel, die Tage der grossen norddeutschen Schneekatastrophe. Der «Grenzkrug» im kleinen nordfriesischen Weiler Vidtoft an der deutsch-dänischen Grenze ist Ort eines Familiendramas und Ausgangspunkt des Abenteuerromans.
Jan Christophersen schafft unvergessliche Figuren und entwirft das beeindruckende Bild einer rauen Gegend voller Wasser, Sand und Schnee. Er erzählt von der Suche nach Identität in einer Familie, in der das Schweigen den Weg zueinander zu einer langen Reise werden lässt atmosphärisch dicht, mit leisem Witz und in einer kraftvollen, suggestiven Sprache.
«Schneetage» ist ein nordfriesisches Abenteuerbuch, das auf Tatsachen beruht, denn die Existenz der Stadt Rungholt im nordfriesischen Wattenmeer, die 1362 durch eine grosse Flutwelle gemeinsam mit einigen anderen Orten zerstört wurde, ist seit einigen Holz-, Brunnen- und Keramikfunden in den zwanziger und dreissiger Jahren bei Archäologen nicht mehr umstritten. Ein Abenteuerbuch und ein wissenschaftlich gefärbter Abenteuerroman.

Schneetage. Roman. mare Verlag 2009

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VERSION FRANÇAISE
15. Internationales Literaturfestival Leukerbad
2. bis 4. Juli 2010