AUTORINNEN UND AUTOREN
Christoph W. Bauer
Peter Bichsel
Chirikure Chirikure
Olga Grjasnowa
Sabine Gruber
Franz Hohler
Oleg Jurjew
Navid Kermani
Nicole Krauss
Jürg Laederach
Hervé Le Tellier
Sibylle Lewitscharoff
Douna Loup
Eva Mattes
Anthony McCarten
Abdelwahab Meddeb
Kerstin Preiwuß
Ursula Timea Rossel
Franz Schuh
Monique Schwitter
Girgis Shoukry
Christoph Simon
Edward St. Aubyn
Ilija Trojanow
Chika Unigwe
Florian Vetsch
Liao Yiwu
Christoph W. Bauer
Poesie und Punk, Catull und Die Toten Hosen – zwischen diesen nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Polen eröffnet Christoph W. Bauer das Feld für seinen Lyrikzyklus: mein lieben mein hassen mein mittendrin du. In 37 Gedichten lässt er ein lyrisches Ich alle Phasen einer bezaubernd schönen und traurigen Liebe erleben: Die erste Begegnung, neugieriges Erkunden, Lust und Überschwang, Routine und Brüche, die sich vertiefen zum Trennungshass – das sind die Stationen, die bereits der römische Dichter Catull in einem Stück Weltliteratur erzählt hat: «odi et amo», «ich hasse und ich liebe». Bauer stellt sich der Tradition, unterläuft sie, betreibt ein Spiel mit literarischen Masken. Mühelos setzt er Welten in Verbindung, knüpft an die Überlieferung antiker Poesie ebenso an wie an den legeren Tonfall moderner Popkultur und wechselt ungezwungen die Stimmungen und Tonlagen. Frisch und unkonventionell, ehrlich und voller Selbstironie erzählt er eine Liebesgeschichte – in Gedichten, die sich im besten Sinn zeitgemäss und zugleich quer zum Zeitgeist präsentieren.
Lyrik ist angewiesen auf den persönlichen Blick, die individuelle Sprache der Abweichung. In diesem Sinne entspricht der 1968 geborene Österreicher Christoph W. Bauer ganz und gar den Vorstellungen eines Dichters. Er schreibt kontinuierlich an seinem Werk, und im Stillen wächst ein grossartiges Oeuvre heran.
getaktet in herzstärkender fremde. Gedichte. Haymon Verlag 2012
mein lieben mein hassen mein mittendrin du. Gedichte. Haymon Verlag 2011
Peter Bichsel
Es ist schon verblüffend und immer wieder von Neuem staunenswert: Peter Bichsel gelingt seit bald fünfzig Jahren etwas, das sich wahrscheinlich jeder Autor wünscht, nämlich von jenen gelesen zu werden, die viel lesen, aber auch von jenen, die wenig lesen. Damit dürfte er der einzige Schweizer Schriftsteller sein, von dem jeder Deutschschweizer schon einmal etwas gehört hat – seien es etwa die Kurzgeschichten, die gerne in der Schule gelesen werden.
Peter Bichsel wurde 1935 geboren; Sohn eines Handwerkers, in Luzern und in Olten aufgewachsen. Nach der Ausbildung zum Primarlehrer arbeitete er bis 1968 in diesem Beruf. Von 1974 bis 1981 war Bichsel persönlicher Berater des damaligen Bundesrates Willy Ritschard. Zwischen 1972 und 1989 hielt er sich mehrere Male als «Writer in Residence» und Gastdozent an amerikanischen Universitäten auf.
Wenn er auf seine eigene unverwechselbare Art subtil polemisiert, steckt dahinter das Leiden an dem, was er liebt und was ihn masslos enttäuscht: dass der Traum vom Liberalismus sich in der Schweiz nicht realisiert hat und alles «unverändert» geblieben ist und dass die «Relativität der Relationen» die Gesellschaft dominiert.
Peter Bichsel erzählt, denkt nach, erinnert sich, sagt seine Meinung, beobachtet und kommentiert. In den Kolumnen, die nicht mehr und nicht weniger sind als kleine Erzählungen, wird unser Alltag lebendig und farbig. Seine Texte belehren uns, dass sich in der Banalität des Lebens etwas herstellen lässt, was ihr vielleicht noch Sinn gibt: das Mitteilbare.
Das ist schnell gesagt. Suhrkamp Verlag 2011
Transsibirische Geschichten. Audio-CD. Verlag Der gesunde Menschenversand 2010
Über Gott und die Welt. Schriften zur Religion. Suhrkamp Verlag 2009
Chirikure Chirikure
Chirikure Chirikure ist der bekannteste Lyrik-Performer Afrikas. Bedeutend ist seine Lyrik durch die einzigartige Verbindung traditioneller afrikanischer Gedicht- und Liedformen mit neuen, avantgardistischen Ansätzen. Aus politischen Gründen musste der 1963 geborene Chirikure immer wieder ins Exil gehen. Trotzdem wurde er für mehrere seiner Gedichtbände in Simbabwe zum Schriftsteller des Jahres gewählt. Er gilt als scharfer Kritiker der korrupten politischen Elite und Anwalt der einfachen Leute von Simbabwe. Aller materiellen Armut zum Trotz existiert dort – insbesondere in Harare – eine höchst lebendige kulturelle Szene, in der die Künstler einen spartenübergreifenden Austausch pflegen. Chirikure verbindet in seiner Arbeit Poesie, Musik und Theater; er gilt als einzigartig, weil er die stilistisch vielfältige orale Tradition mit der Schriftkultur verknüpft.
Er ist aufgewachsen in der Zeit der Befreiungskämpfe und einer scharfen Polarisierung der Rassen; diese Themen spielen als beständige Rückblicke eine entscheidende Rolle in seinen Publikationen. In seiner Lyrik verbindet er konsequent aktuelle und nicht-mythologische Themenkreise. Seine Gedichte sind in seinem Heimatland so bekannt, dass sie als Graffiti auf Hauswände der Hauptstadt gesprüht werden. Seine Performances sind inzwischen weit über den afrikanischen Kontinent hinaus berühmt.
Aussicht auf eigene Schatten. Dreisprachige Ausgabe, deutsch-englisch-shona mit CD. Übersetzt von Sylvia Geist. Wunderhorn Verlag 2011
Olga Grjasnowa
Olga Grjasnowa wurde 1984 in eine jüdische Familie in Baku, Aserbaidschan, hineingeboren und kam 1996 mit ihrer Familie als Kontingentsflüchtling nach Deutschland in die Bundesrepublik. Sie spricht drei Sprachen, absolvierte das Leipziger Literaturinstitut und studiert im Augenblick in Berlin Tanzwissenschaft.
Ihr Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt ist eines der Bücher, das nur ganz kurze Zeit als Geheimtipp gilt, über das plötzlich alle sprechen, das überall gelesen und gelobt wird.
Mascha heisst die Hauptfigur und Mascha ist jung und eigenwillig, sie ist Aserbaidschanerin, Jüdin, und wenn nötig auch Türkin und Französin. Als Immigrantin musste sie in Deutschland früh die Erfahrung der Sprachlosigkeit machen. Nun spricht sie fünf Sprachen fliessend und ein paar weitere so «wie die Ballermann-Touristen Deutsch». Sie plant gerade ihre Karriere bei der UNO, als ihr Freund Elias schwer krank wird. Verzweifelt flieht sie nach Israel und wird schliesslich von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. Mit perfekter Ausgewogenheit von Tragik und Komik und mit einem bemerkenswerten Sinn für das Wesentliche erzählt Olga Grjasnowa die Geschichte einer Generation, die keine Grenzen kennt, aber auch keine Heimat hat.
Die Zeit fasst zusammen, was der Autorin mit diesem Roman gelingt: «Olga Grjasnowa trifft aus dem Stand den Nerv ihrer Generation. Zeitgeschichtlich wacher und eigensinniger als dieser Roman war lange kein deutsches Debüt.»
Der Russe ist einer, der Birken liebt. Roman. Hanser 2012
Sabine Gruber
Es ist nicht einfach, in den 60er und 70er Jahren in Südtirol aufzuwachsen: Die deutsch- und die italienischsprachige Kultur sind voneinander getrennt, die politischen Fronten zwischen deutsch- und italienischsprachigen SüdtirolerInnen verhärtet. Die die Region regierende (deutschsprachige) Südtiroler Volkspartei tritt für eine Apartheid zwischen der «deutschen» Volksgruppe und den ItalienerInnen ein – eine Reaktion auf die faschistische Italianisierungspolitik seit den 20er Jahren. In diese Atmosphäre wird Sabine Gruber 1963 geboren.
Selten erfährt man so viel über die Bruchstellen der italienischen und österreichisch / deutschen Geschichte wie in ihrem neuen Roman Stillbach oder die Sehnsucht. Sie verknüpft darin äusserst kunstvoll Lebens- und Familiengeschichten von Frauen zwischen Südtirol, Rom und Wien: Ines’ Geschichte als Zimmermädchen, jene ihrer damaligen Chefin Emma Manente, die Jahrzehnte vor ihr von Stillbach aufgebrochen ist, um in Rom ihr Glück zu finden. Die Arbeitskraft der deutschsprachigen Mädchen aus Südtiroler Dörfern war bei römischen Familien, vor allem aber in der Gastronomie, äusserst willkommen. Die jungen Frauen galten als tüchtig und waren ideales Servicepersonal für die deutschsprachigen Rom-Touristen. Von der Zwischenkriegszeit bis in die Siebzigerjahre verdienten sich viele im Sommer oder für längere Zeit als Dienst-, Kinder- oder Zimmermädchen ihr Geld und hofften auf ein anderes, besseres Leben als jenes, das in Südtirol auf sie wartete.
Sabine Gruber reflektiert ihr literarisches Verfahren der Vermischung von Fakten und Fiktion sehr genau. Und so konstatiert die FAZ: «Sabine Gruber gehört zu den wichtigsten Talenten der österreichischen Autorengeneration nach Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz.»
Stillbach oder die Sehnsucht. Roman. Beck Verlag 2011
Über Nacht. Roman. Beck Verlag 2007
Die Zumutung. Roman. Beck Verlag 2003
Franz Hohler
Franz Hohler wurde 1943 in Biel geboren und lebt heute in Zürich. Er gilt als einer der bedeutendsten Erzähler der Schweiz.
Wissen wir eigentlich, wo wir leben? Wie die Strassen aussehen, die wir täglich entlanggehen? Wie der Frühling sich am nahe gelegenen Fluss anfühlt? In Franz Hohlers Spaziergängen bekommen wir eine Ahnung, was es in unserer nächsten Umgebung alles zu entdecken gibt – an Schönem, an Merkwürdigkeiten und auch an Aberwitz. Ein Jahr lang hat Franz Hohler jede Woche einen Spaziergang unternommen, jede Woche gezielt einen anderen. Was er auf diesen Spaziergängen gesehen hat und was ihm beim Gehen widerfahren und aufgefallen ist, hat er in dem aussergewöhnlichen Erzählband Spaziergänge festgehalten. Seine kurzen Erzählungen sind eine Schule des Sehens und der Achtsamkeit, und nach und nach bekommen wir eine Ahnung, was «zu Hause» heute ist und was es sein könnte. Wir lernen wahrzunehmen und verwandeln uns langsam in Kenner von etwas, das wir zu kennen glaubten – unseren Alltag.
Der Schriftsteller Urs Widmer betont Hohlers Bezug zur Wirklichkeit – und seinen Humor. Sein grösstes Talent sei es nämlich, «der Bestie Wirklichkeit in die Augen zu schauen (...) und dabei heiter zu bleiben». Franz Hohler kennen wir als einen zutiefst menschenfreundlichen Poeten mit Texten, die die Welt verwandeln. Aus scheinbar zufällig sinnlich Wahrgenommenem entsteht Sinn, der uns in den Alltag hinein folgt. Dabei bleibt Franz Hohler der alte Unruhestifter, der uns seit Jahrzehnten mit klugen, aberwitzigen, bewegenden, fröhlichen, traurigen und nachdenklichen Geschichten immer wieder aus dem Gleichgewicht der Stumpfheit und Normalität wirft.
Spaziergänge. Erzählungen. Luchterhand 2012
Der Stein. Erzählungen. Luchterhand 2011
Das Kurze. Das Einfache. Das Kindliche. Ein Gedankenbuch. Luchterhand 2010
Oleg Jurjew
Grosse Wunderwerke aus Sprachgewalt und Zartheit sind die Romane von Oleg Jurjew. Dass seine in der russischen Heimat hoch gepriesenen Gedichte bisher kaum auf Deutsch zu lesen waren, ist ein editorischer Mangel, der jetzt endlich behoben wird. Der Band In zwei Spiegeln versammelt Gedichte aus über dreissig Jahren; er zeigt Oleg Jurjews poetische Weltvermessung zwischen Bitterkeit und Ironie, zwischen dem Erhabenen und dem Alltäglichen und nicht zuletzt zwischen den Lebensstationen Leningrad und Frankfurt.
Oleg Jurjew wurde 1959 in Leningrad (heute St. Petersburg) geboren. 1990 kam er für eine Lesereise nach Berlin. Ein Jahr später übersiedelte er dann mit seiner Frau, der Lyrikerin, Publizistin und Übersetzerin Olga Martynova von St. Petersburg nach Frankfurt, wo er heute lebt. Abwarten, wie sich die Lage in Russland weiter entwickelt wollten sie. Geblieben sind sie mittlerweile zwanzig Jahre. Oleg Jurjew versteht sich inzwischen als ein russischdeutscher Schriftsteller. «Das Leben in einer anderen Kultur, inmitten eines anderen Volkes ist günstig, um zu verstehen, dass es keine eindeutige Wahrheit über die Dinge des Lebens gibt», meint Oleg Jurjew, «man ist in einer einzigartigen Situation und kann alles vielseitiger betrachten».
Als Jurjew nach Deutschland kam, war er Insidern schon als russischer Dissidentenpoet und Dramatiker bekannt. Fast alle seine Arbeiten haben einen Bezug zum Judentum, zur russischen Kultur und Geschichte, sind Abrechnungen mit dem untergegangenen Sowjetregime oder kritische Auseinandersetzungen mit den Anfangsjahren der neuen Zeit.
In zwei Spiegeln. Gedichte. Russisch – Deutsch. Aus dem Russischen von Elke Erb, Gregor Laschen, Olga Martynova und Daniel Jurjew. Jung und Jung Verlag 2012.
Zwischen den Tischen. Olga Martynova und Oleg Jurjew im essayistischen Dialog. Bernstein-Verlag 2011
Die russische Fracht. Hörbuch. Gelesen von Harry Rowohlt. Kein & Aber. Zürich 2011
Navid Kermani
Navid Kermani wurde 1967 als Sohn iranischer Eltern in Siegen geboren. Nach einem Studium der Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaft in Köln, Kairo und Bonn folgte die Promotion und Habilitation im Fach Orientalistik. Er war bis 2003 «Long Term Fellow» am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Seitdem lebt er als freier Schriftsteller in Köln. Er hat einen deutschen und einen iranischen Pass.
Seine literarische Arbeit kreist immer wieder um menschliche Grenzerfahrungen, sei es angesichts des Todes, aber auch im Alltag; die Erfahrung der Musik oder auch der Sexualität. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen auf dem Koran und der islamischen Mystik. Kermani ist unter anderem Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, war Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und gehörte bei der Wahl des deutschen Bundespräsidenten 2010 der Bundesversammlung an.
Am 8. Juni 2006 beginnt Navid Kermani seinen Roman Dein Name, und es wird einer der ungewöhnlichsten Romane unserer Zeit. Er schreibt alles, aber auch wirklich alles, auf, was zwischen dem 8. Juni 2006, 11.23 Uhr und dem 11. Juni 2011, 10.15 Uhr passiert, was er tut und an was er denkt: die Gegenwart und die Vergangenheit seiner Familie, die Erinnerung an gestorbene Freunde und die mitreissende Lektüre Jean Pauls und Hölderlins. Die Geschichte seines Grossvaters, der von Nahost nach Deutschland ging, wird zum Herzstück des Romans. Immer wieder drängt sich dem Romancier der entscheidende Moment dazwischen: der des Schreibens. Josef Hanimann (Süddeutsche Zeitung) gibt eine Leseempfehlung für das 1200 Seiten umfassende Buch ab: «Wie ein Journal sollte man dieses Buch lesen, vorwärts, rückwärts, leichtfüssig, in Häppchen, mit hoher Naschkapazität.»
Dein Name. Roman. Hanser 2011
Kurzmitteilung. Roman. Ammann 2007
Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime. C.H. Beck 2009
Nicole Krauss
Nicole Krauss, geboren 1974 in New York, studierte Literatur in Stanford und Oxford sowie Kunstgeschichte in London. Sie begann, Gedichte zu schreiben und debütierte 2002 mit Man walks into a Room (Kommt ein Mann ins Zimmer) als Romanautorin. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jonathan Safran Foer, und den beiden Kindern in New York. Ihre Bücher wurden in mehr als 35 Sprachen übersetzt.
In jedem ihrer Bücher beschreibt Nicole Krauss wie ihre Protagonisten auf die grossen und weniger grossen Katastrophen reagieren, denen sie sie aussetzt. In ihrem jüngsten Roman Das grosse Haus ist ein Schreibtisch, den eine junge Schriftstellerin von einem in den Folterkellern Pinochets gestorbenen Chilenen geschenkt bekam, Dreh- und Angelpunkt der vier Erzählkomplexe. Der Titel des Romans bezieht sich auf einen Gründungsmythos der jüdischen Diaspora: «Heute», lässt Nicole Krauss eine ihrer Figuren erörtern, «ist jede jüdische Seele um das Haus herum gebaut, das im Feuer verbrannt ist, so gross, dass sich jeder Einzelne von uns nur an ein winziges Bruchstück erinnern kann... Aber wenn alle jüdischen Erinnerungen zusammengebracht (...) würden, könnte das Haus wieder aufgebaut werden.»
In einem Fragebogen des New Yorker, der sie in seine Anthologie der 20 besten Autoren unter 40 aufgenommen hatte, wurde Krauss gefragt, was ihrer Meinung nach das Funktionieren eines fiktionalen Textes ausmache. Sie antwortete: «Sein Vermögen, uns an uns selbst zu erinnern, daran, wer wir im Kern sind, und im selben Moment eine Offenbarung zu liefern.» Und über ihr Schreiben sagt sie in einem Interview mit der FAZ: «Welche Form wird das Haus beim Schreiben annehmen? Das ist für mich Schreiben – etwas zu bauen, das dann mein Zuhause wird.»
Das grosse Haus. Roman. Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag 2011
Die Geschichte der Liebe. Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag 2005
Kommt ein Mann ins Zimmer. Roman. Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag 2006 (Bereits 2002 in den USA erschienen.)
Hervé Le Tellier
Hervé Le Tellier wurde 1957 in Paris geboren, wo er heute auch lebt. Er veröffentlichte viele originelle Bücher, Romane, Erzählungen, Gedichte und Kolumnen. Le Tellier, von Haus aus Sprachwissenschaftler, ist ein «multipler» Autor zumeist «kleiner» Formen (Novelle, Fabel), mit denen er teils experimentiert, die er aber grossteils selbst (weiter-)entwickelt. Er arbeitet als Kolumnist in der Internet-Ausgabe der französischen Zeitung Le Monde.
Kein Wort mehr über Liebe ist das erste Buch von Hervé Le Tellier in deutscher Übersetzung. In einem Jahrhundertsommer erhält das Liebesleben zweier Ehepaare durch zwei Liebhaber neue Impulse – die Frage, was man für die neue Liebe aufs Spiel setzt, wird elegant, geistreich und witzig gestellt. Hervé Le Tellier sagt über seine Protagonisten: «Zu meinen sechs Figuren, den Ehemännern, den Frauen, den Liebhabern, habe ich ein inniges Verhältnis. Alle sind liebenswert, aber nicht alle wissen zu lieben.»
In seinem neuen Roman, der französische Originaltitel ist Electrico W, der gerade erst ins Deutsche übersetzt wird, geht es etwas weniger heiter zu, doch schafft er eine wunderschöne Parabel über Kunst und Leben, angesiedelt in Lissabon.
Seit 1992 ist Le Tellier Mitglied der Autorengruppe OuLiPo, einem internationalen Autorenkreis. Das Akronym Oulipo kommt von L’Ouvroir de Littérature Potentielle («Werkstatt für potenzielle Literatur »). Das zugehörige Adjektiv lautet oulipotisch. Das Ziel von Oulipo ist die «Spracherweiterung durch formale Zwänge». Georges Perec führte dies vor, indem er 1969 den leitprogrammatischen Roman La Disparition schrieb, in dem der Buchstabe «e» nicht vorkommt. Oulipotische Werke müssen sich einer «contrainte», einer Beschränkung, unterwerfen, die das verwendete Sprachmaterial freiwillig begrenzt.
Kein Wort mehr über die Liebe. Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte. dtv 2011
In Übersetzung:
Electrico W. Roman. In Frankreich 2011 erschienen.
Mit Oulipo:
Bis auf die Knochen. Das Kochbuch, das jeder braucht. Herausgegeben von Jürgen Ritte. Arche Verlag 2009
Affensprache. Spielmaschinen und allgemeine Regelwerke. Plasma 1997
Sibylle Lewitscharoff
Bereits zum vierten Mal reist die 1954 in Stuttgart geborene Sibylle Lewitscharoff ans Literaturfestival Leukerbad – und auch darüber hinaus hat sie eine enge Bindung zum Wallis seit sie 2009 mit dem Spycher: Literaturpreis Leuk ausgezeichnet wurde.
Sibylle Lewitscharoff, die Religionswissenschaften studierte, begann ihre schriftstellerische Tätigkeit mit dem Verfassen von Radio-Features und Hörspielen. 1998 gelang ihr der Durchbruch: Sie erhielt den Ingeborg-Bachmann-Preis für ihren Roman Pong. In ihrem literarischen und essayistischen Schaffen zeigt sie sich so humorbegabt und vielseitig wie wenige andere.
In ihrem jüngsten Roman Blumenberg macht sie den 1996 in Münster verstorben Philosophen Hans Blumenberg zur Romanfigur. Ihm erscheint eines Nachts in seinem Arbeitszimmer ein Löwe, der fortan immer wieder auftaucht und zu seinem – für die Umwelt unsichtbaren – Begleiter wird. Die Kraft von Metaphern und Bildern war eines der zentralen Themen Blumenbergs und besonders intensiv hat er sich immer wieder mit Löwen-Themen befasst. Dass Sibylle Lewitscharoff ihm also einen zahmen Löwen – wie er auch Hieronymus bei seiner Bibelübersetzung Gesellschaft leistete – ins nächtliche Studierzimmer setzt, ist kein Zufall und der Philosoph erklärte es sich so: «Der Löwe ist zu mir gekommen, weil ich der letzte Philosoph bin, der ihn zu würdigen versteht.»
Ijoma Mangold schliesst seine Rezension von Blumenberg in der Zeit mit der Feststellung: «Wir haben keine Antworten. Wir können noch nicht einmal genau die Fragen benennen, die dieser Roman aufwirft. Wir wissen nur eines: Ein Leben ohne Löwen ist ein armseliges.»
Blumenberg. Roman. Suhrkamp 2011
Apostoloff. Roman. Suhrkamp 2009
Consommatus. Roman. DVA 2006
Montgomery. Roman. DVA 2003
Douna Loup
Douna Loup wurde 1982 bei Genf geboren und ist in Frankreich aufgewachsen. Eine Ausbildung in Phytoaromatherapie und Ethnomedizin schloss siemit einer Arbeit über die traditionelle Medizin im Senegal ab. Zusammen mit dem Asylbewerber Gabriel Nganga Nseka publizierte sie 2010 dessen Lebensbericht Mopaya. Récit d’une traversée du Congo à la Suisse. Ausserdem schreibt sie Theaterstücke.
Ihr erster Roman Die Schwesterfrau (französischer Originaltitel: L’Embrasure) ist 2010 im renommierten französischen Verlag Mercure de France erschienen, die deutsche Veröffentlichung im Lenos Verlag folgte im Frühjahr diesen Jahres.
Der namenlose Erzähler – ein junger Mann – verbringt seinen Alltag am Fliessband einer Fabrik. Seine ganze Passion gehört der Jagd. Da wähnt sich der junge Erzähler frei, eingebunden nur in die Gesetze der Natur. Unverbindlichen Bettgeschichten nicht abgeneigt, will er auf keinen Fall, dass eine Frau konkret in sein Leben tritt. Als Waise bei seinen Grosseltern aufgewachsen, hat er einzig zum Grossvater, der ihm das Jagen beibrachte, eine Beziehung. Eines Tages findet er auf der Pirsch einen Toten; die Geschichte von zwei verlorenen Menschen, die im Leben neu Fuss fassen, nimmt ihren Lauf.
Erstaunlich versiert versetzt sich Douna Loup in die Haut ihres männlichen Ich-Erzählers, dessen enges Weltbild zunehmend ins Wanken gerät.
Die Pressestimmen sind aussergewöhnlich und einstimmig, nicht nur die NZZ ist begeistert: «L’Embrasure ist ein erstaunlich reifes Début, zeitgenössisch und doch irgendwie zeitlos; ein Märchen von einem, der schliesslich und endlich doch ausgezogen ist.»
Die Schwesterfrau. Roman. Aus dem Französischen von Peter Burri. Lenos Verlag 2012
Jürg Laederach
«Die Löwen entlöwen sich»: Mit diesem Walser-Zitat begann Jürg Laederach, geboren 1945 in Basel, vor 30 Jahren als Erzähler. Der Satz steht programmatisch über dem Werk dieses grossen, aber viel zu wenig gelesenen Schweizer Schriftstellers (und Übersetzers). Er gehört mit seiner vertrackten Art zu den wenigen Schweizer Autoren, die elegant und sehr nebenher einige der vielfältigen Aspekte des Komischen beherrschen. Die Texte sind gespickt mit Wortspielen, Pointen, ironischen Untertönen, die zu den Hauptsätzen das Echo liefern. Das schnelle Denken von Jürg Laederach und seine durch viel Lektüre erworbene und auf verarbeitetem Wissen basierende Begabung, Entlegenes in einer Sekunde, einer Bewegung, in einem Satz zusammenzubringen, führt ihn unweigerlich in die Bereiche des Komischen. Der Witz lebt vom Blitz, der zwischen anscheinend unvereinbaren Welten eine Brücke schlägt.
Jürg Laederachs neuer Erzählband ist aberwitzig, komisch, satirisch, unterhaltend: Literatur auf dem Hochseil, das zu des Lesers Schadenfreude und Verblüffung gelegentlich knapp über dem Boden schlappt. Der übliche Held der Handlung findet in der Regel das Bühnenbild vor und fängt an, quer hindurch zu laufen. Harmful, Protagonist von Laederachs jüngstem Werk aber läuft los und erzeugt damit erst die Bühnenbilder. Womöglich erdenkt er sie, ist ihnen aber doch ausgeliefert. Weder ist er – was er gern möchte – der einzige Held, noch hält die Hölle den Prüfungen seines Hitzemessers stand. Das Buch macht Angebote. Zur allgemeinen Entgleisung in den Schrecken gehört auch das Herausrutschen der Person aus der Persönlichkeit.
Harmfuls Hölle: in dreizehn Episoden. Suhrkamp Verlag 2011
Depeschen nach Mailand. Herausgegeben von Michel Mettler. Suhrkamp Verlag 2009
In Hackensack – Vier minimale Stücke. Urs Engeler Editor 2003
Übersetzungen u. a.: Maurice Blanchot und Walter Abish. Urs Engeler Editor 2002 – 2006
Eva Mattes
Eva Mattes war bereits 2008 in Leukerbad zu Gast und hat damals Zeruya Shalev und Cécile Wajsbrot ihre deutsche Stimme geliehen. In diesem Jahr wird sie Nicole Krauss’ Texte auf Deutsch lesen, vor allem aber reist sie mit ihrer eigenwilligen Autobiografie Wir können nicht alle wie Berta sein ans Festival.
Eva Mattes avancierte in den siebziger und achtziger Jahren nicht nur zur Kultfigur des deutschen Autorenfilms, sondern auch zu einer der wichtigsten Bühnenschauspielerinnen des deutschen Sprachraums. Mit allen grossen Film- und Theaterregisseuren – ob Verhoeven, Reinhard Hauff, Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog oder Peter Zadek – arbeitete sie zusammen, und ihre provokanten Rollen sorgten immer wieder für Aufsehen. Eva Mattes ist eine der kraftvollsten deutschen Schauspielerinnen auf Leinwand und Bühne, mit einer sensiblen und gleichzeitig energischen Präsenz.
In ihren Erinnerungen erzählt die Schauspielerin, die nie eine Schauspielschule besucht hat, nicht nur von ihren beruflichen Höhepunkten und Niederlagen, sondern auch von den vielen Herausforderungen, die sie privat zu meistern hatte. Ein sehr persönliches, poetisches und intensives Buch und zugleich ein interessanter Streifzug durch die deutsche Theater- und Filmgeschichte seit den sechziger Jahren. Ihre bewegende Lebensgeschichte gibt Einblick in das wechselvolle Leben einer starken und sympathischen Frau, die zwischen den Rollen zu sich selbst findet.
Der Titel ihrer Autobiografie ist Henrik Ibsens Drama Die Wildente entliehen: Berta ist eine fiktive Person, die zum Sinnbild dafür wird, wie jemand sein Leben meistert.
Wir können nicht alle wie Berta sein. Erinnerungen. Ullstein Verlag 2011
Anthony McCarten
Anthony McCarten, geboren 1961 in New Plymouth / Neuseeland, feierte mit 25 mit Ladies Night einen weltweiten Theatererfolg. Die unautorisierte Filmadaption The Full Monty (Ganz oder gar nicht) ist eine der weltweit erfolgreichsten Filmkomödien. Seine vier ersten Romane waren alle grosse Kritiker- und Publikumserfolge. Die Verfilmung von Superhero durch Ian FitzGibbon (nach einem Drehbuch von Anthony McCarten) startet am 12. Juli 2012 in den Kinos.
Die Geschichte seines aktuellen Romans Liebe am Ende der Welt klingt phantastisch: Drei unschuldige Mädchen, die plötzlich schwanger sind. Von Ausserirdischen, versichern sie. Was anfangs Science-Fiction-Züge trägt, wandelt sich zu einem komplexen Drama, das Anthony McCarten mit einer provokativen Ruhe entwickelt. Die Kleinstadt gibt den gemächlichen Takt vor. Hier leben ein Polizist und seine tratschlustige Frau, ein Friseur und ein sehr verdächtiger Priester. Und so macht einerseits das Erlebnis schnell die Runde, andererseits schwankt mit der zunehmenden Festigkeit dieser Geschichte der ganze sichere Kleinstadtboden unter der Last der sich anhäufenden – sehr irdischen – Beweise.
Anthony McCarten wird am Festival nicht nur aus Liebe am Ende der Welt lesen, sondern auch die Fortsetzung von Superhero erstmals im deutschsprachigen Raum vorstellen. Sie erscheint im August unter dem Titel Ganz normale Helden. Ein ganz normaler Held ist Jeff, der im Internet ein Star ist, und damit viel Geld verdient, vor allem aber kann er hier gegen die Geister kämpfen, die ihn nicht loslassen: Schule, Mädchen und der Tod seines Bruders. Sein Vater will nicht noch einen Sohn verlieren und loggt sich in die ihm fremde Welt der unbegrenzten Möglichkeiten ein. Dabei begreift er auch, was in der alten Welt wirklich wichtig ist.
Ganz normale Helden. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Diogenes Verlag. Erscheint am 28.8.2012.
Liebe am Ende der Welt. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Diogenes Verlag 2011
Englischer Harem. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Diogenes Verlag 2009
Abdelwahab Meddeb
Abdelwahab Meddeb ist einer der profiliertesten Vertreter der französischen Schriftsteller arabischer Herkunft. Er wurde 1946 in Tunis geboren und stammt aus einer Familie von Theologen und Schriftgelehrten. Als Hochschullehrer, Lyriker und Essayist lebt er in Paris und ist Herausgeber der interkulturellen Zeitschrift dédale. Nach dem Studium der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft war Meddeb Lektor und betreute eine eigene belletristische Reihe. Seit Anfang der neunziger Jahre wurde er als Gastdozent an Universitäten und Forschungszentren in Genf, Florenz, Paris, Berlin und Yale eingeladen.
In seinem belletristischen wie auch in seinem wissenschaftlichen Werk beschäftigt sich Abdelwahab Meddeb immer wieder mit den Wurzeln und der Geschichte des Islam, seinen Literaturen, seiner Kultur und der problematischen Integration muslimischen Denkens in den Prozess der Moderne.
Sein Lyrikband Ibn Arabis Grab enthält neben den französischsprachigen Prosagedichten auch arabische und deutsche Nachdichtungen. In seinem Buch Die Krankheit des Islam versucht er, eine exakte Analyse des zeitgenössischen Islam zu zeichnen. Auf der einen Seite kontrastiert er die poetische Tradition der Freidenker und mittelalterlichen Mystiker mit der militanten Tradition der Dogmatiker und fanatischen Puristen, auf der anderen Seite kritisiert er die vereinfachte Sichtweise im Westen, die den Islam zum Feindbild macht. Meddeb betont die Notwendigkeit einer genaueren Kenntnis der Tradition. Schriftsteller wie Ibn Arabi, Dante und Yehuda Halevi gelten ihm als Vordenker einer humaneren Welt, deren Philosophien sich ergänzen, anstatt zu kollidieren. (Siehe auch Tanger Trance)
Zwischen Europa und Islam. 115 Gegenpredigten. Wunderhorn 2007
Ibn Arabis Grab. Gedichte. Wunderhorn 2004
Die Krankheit des Islam. Wunderhorn 2002
Kerstin Preiwuß
Kerstin Preiwuß, 1980 in Lübz geboren, wuchs in Plau am See und Rostock auf. Sie ist Absolventin des Leipziger Literaturinstituts. Heute lebt sie als freie Autorin und Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift Edit in Leipzig. 2006 debütierte sie mit dem Gedichtband nachricht von neuen sternen. In Leukerbad wird sie ihre Rede, einen Gedichtband oder besser ein Langgedicht in dreizehn Abschnitten vorstellen.
Wenn jemand stirbt, wird nicht ihm allein Gewalt angetan; der Tod zeichnet auch die, die bleiben. Um der Erschütterung zu begegnen, muss sie überführt werden in Sprache. Dies zu tun, setzen die Gedichte von Kerstin Preiwuß eine Bewegung unterhalb der Bewusstseinsschwelle in Gang. Letztlich sind es die Worte, die einen Weg zurück weisen in die Welt, wie sie vor der Erschütterung war und nach ihr wieder sein wird.
Der Freitag attestiert Kerstin Preiwuß’ Rede nicht weniger als in der Tradition Paul Celans zu stehen und das «nicht nur aufgrund seiner Eis- und Bergmetaphorik. Celans Werk ist nur eines unter mehreren, mit denen sich dieses Gedicht lebendig und fruchtbar auseinandersetzt: ‹wer zur herbstzeitlose ist eine hagere sophie / reisst in meinen schädel ein loch / mit ein wenig trauerflor mach ich es blickdicht›. Hierin lässt sich (...) das Henkersmädel Sophie aus Morgensterns Galgenliedern entdecken.»
Die lyrische Stimme von Kerstin Preiwuß ist kraftvoll und eigenständig und zeigt in jeder Faser ihrer Gedichte das Vertrauen der Autorin in die Sprache selbst, denn «Die Sprache kann man nicht anzweifeln, die Sprache ist immer das Erste und Letzte, was gilt, sie ist Netz, Seil und Balancierstange in einem.» (Kerstin Preiwuß in einem Essay 2010)
Rede. Gedichte. Suhrkamp 2012
nachricht von neuen sternen. Gedichte. Connewitzer Verlagsbuchhandlung 2006
Ursula Timea Rossel
«Geneigter Nichtleser, der Autor kann immer nur das halbe Buch schreiben; Du bist es, der die andere Hälfte brachliegen lässt. Geschätzter Leser, Du bist es, der die andere Hälfte liest. Wie du das machst, ist deine freie Entscheidung.» So begrüsst Ursula Timea Rossel uns Leser und Leserinnen – oder auch die geschätzten Nichtleser und lässt allen die Wahl, ob wir uns einlassen auf ein Abenteuer aus Zeit und Raum und ob alles echt oder nur der Zauber der Illusion ist.
Wigand Behaim ist Kartograph und hat sich der Aufgabe verschrieben, die gesamte Erde akkurat zu kartieren. Er will damit seiner Urangst sich zu verirren etwas entgegensetzen. Deshalb schlägt er sich mit den Problemen des Raumes herum, obwohl es doch viel öfter die zeitliche Dimension ist, die eine Karte unbrauchbar macht. Sibylle Blauwelsch dagegen fürchtet sich vor dem Zuspätkommen und wird von der Zeit durch immer neue Leben gepeitscht. Egal ob als Guerillera im mittelamerikanischen Dschungel, als Rennkamelzüchterin in der arabischen Wüste oder auf der Jagd nach Schneelöwen, sie weiss immer, dass das neue Leben ihrem alten Leben in nichts nachstehen werde. Warum zeichnet Wigand Karten und hat doch Angst vor dem Verirren? Weshalb holt Sibylle die Zeit von hinten ein, obwohl sie ihr zeitlebens hinterherrennt? Und was macht Schrödingers Katze zwischen all den Zeiträumen und in der Raumzeit? Dieses wunderbare Buch knüpft an unsere Vergangenheit als Flossreisende, unsere Sympathie für Abenteurer und Seefahrer, unsere Vorliebe für Karten und das Unterwegssein an.
Ursula Timea Rossel, geboren 1975 in Thun, lebt im Waadtland und überrascht uns mit einem fantastischen, einem grandiosen Debüt.
Man nehme Silber und Knoblauch, Erde und Salz. Roman. Bilgerverlag 2011
Franz Schuh
In Österreich ist der grossartige Denker und Essayist Franz Schuh so beliebt wie normalerweise nur Spitzensportler oder Hitparadenstürmer. Er kann komplexe Gedankengänge auf den ganz normalen Alltag herunterbrechen und mit seiner sonoren Stimme so erklären, dass es einfach jeder versteht.
Eine grosse Liebeserklärung an die Literatur ist das im letzten Herbst erschienene neue Buch: Unabhängig von Moden und Genres stehen darin Erzählungen neben Essays und Gedichten, die der Frage des moralischen Urteilens und der Frage, was «gut» ist, nachgehen. In einem Essay über Thomas Mann und Robert Musil werden beispielsweise Grössenverhältnisse thematisiert. Schuh hat den Krückenkaktus im Wiener Allgemeinen Krankenhaus gesehen. Er wurde ihm zum Symbol für die praktische Veranlagung von Menschen; aber darin fand er ebenso Parallelen zu seiner eigenen Arbeit.
Schuh, einer der luzidesten Denker der Gegenwart, erzählt von grossen Geistern, kleinen Beobachtungen und ewigen Themen. Seinem universalen Blick ist keine Theorie zu hoch, keine Trivialität zu niedrig um sie zum Gegenstand des Nachdenkens und Erörterns zu machen. Alltägliches und Aussergewöhnliches, Banales und Exklusives werden ihm gleichermassen zum Gegenstand der Befremdung, des Staunens und Nachdenkens.
Franz Schuh ist «eine Schreibkraft, so unerbittlich wie der beste Ernst Jandl» (NZZ).
Der Krückenkaktus. Erinnerungen an die Liebe, die Kunst und den Tod. Zsolnay 2011
Memoiren. Ein Interview gegen mich selbst. Zsolnay 2008
Monique Schwitter
Monique Schwitter, 1972 in Zürich geboren, lebt seit 2005 in Hamburg. Sie hat in Salzburg Schauspiel und Regie studiert, war unter anderem an den Schauspielhäusern in Zürich, Frankfurt, Graz und Hamburg engagiert und arbeitet heute als freie Autorin in Hamburg. Sie ist eine Verfechterin der Erinnerung und schreibt an gegen ein nachlässiges Vergessen, mit dem viele Menschen ihr Leben wegwerfen, anstatt es mit Hilfe der Kraft des Erinnerns zu suchen und wieder zu finden, falls sie, was vorkommen soll, etwas davon verloren haben. Das Groteske ist die Norm in ihrem neuen zweiten Erzählband Goldfischgedächtnis.
Vorerst kommen die Geschichten ganz leicht daher, um bald aus scheinbar harmlosen und alltäglichen Situationen eine abgründige Dynamik und eine schillernde Irritation zu entwickeln. Wie beiläufig vermitteln sich darin die grossen Themen und Wechselfälle des Lebens: Es wird erzählt von Beziehungen und Freundschaften, von Abschieden und Neuanfängen und nicht zuletzt von der rettenden Kraft der Phantasie. Immer wieder geht es um den Zusammenhang zwischen Vergessen, Erinnerung und dem Leben. Wenn man die zum Teil sehr kurzen, durch eine prägnante und gleichwohl poetische Sprache geprägten Texte liest, denkt man mehr als einmal an Berichte über Menschen, die ihr Gedächtnis verloren haben und damit auch einen wesentlichen Teil ihrer Identität. Viele der Menschen, die Monique Schwitter in ihren erzählerischen Porträts beschreibt, glaubt man zu kennen.
Goldfischgedächtnis. Erzählungen. Droschl Verlag 2011
Ohren haben keine Lider. Roman. Residenz Verlag 2008
Wenn´s schneit beim Krokodil. Erzählungen. Droschl Verlag 2005
Girgis Shoukry
Dass er einer koptischen Familie entstammt, mag in der Poesie des Ägypters manchmal aufscheinen. Sein Werk ist durch eine kraftvoll-elegante Sprache bestimmt, die mit poetischer Wucht immer wieder das Konkrete schafft.
1967 in Sohag geboren, verdient Girgis Shoukry seinen Lebensunterhalt als Kunst- und Theaterkritiker für ein Radio- und Fernsehmagazin und gibt die Reihe Aswaat adadiyya («Literarische Stimmen») mit heraus.
In Kairo lebt er erst seit gut fünfzehn Jahren. Man zählt ihn zur Generation der 90er, die sich von der hoch politisierten, einst avantgardistischen, heute etablierten Autorengeneration der 60er Jahre deutlich absetzt. Seit 1996 hat er eine Reihe von Gedichtsammlungen veröffentlicht, die ihm rasch den Ruf eines unkonventionellen Poeten eintrugen. Shoukry beschäftigt sich direkt mit dem Alltag, und meistens schreibt er nicht mehr im Hocharabischen, wie es die literarische Konvention verlangen würde, sondern in der Umgangssprache. «Meine Gedichte sollen aussehen wie die Menschen auf der Strasse», sagt Girgis Shoukry. Er möchte die Lyrik aus dem Elfenbeinturm befreien und dem Leser neue Perspektiven auf die Welt eröffnen. Wie viele andere ägyptische Schriftsteller seiner Generation interessiert er sich als Lyriker weniger für das grosse Ganze als für den Einzelnen. Seine teils melancholische, teils lakonische Dichtung schärft den Blick für die Risse in der Normalität und deckt die Einsamkeit des Menschen in seinem Leben auf.
Und die Hände auf Urlaub. Gedichte auf Arabisch und Deutsch. Aus dem Arabischen von Leila Chammaa. Unter Mitarbeit von José A. Oliver und Raphael Urweider. Verlag Hans Schiler 2007
Was von uns übrig bleibt, interessiert niemanden. Gedichte auf Arabisch und Deutsch. Aus dem Arabischen von Suleman Taufiq. Sabon Verlag 2004
Christoph Simon
Christoph Simon, 1972 in Langnau im Emmental geboren, lebt und arbeitet seit Jahren in Bern. Zehn Jahre nach seinem Debüt mit dem Kultroman Franz oder Warum Antilopen nebeneinander laufen schreibt Christoph Simon ein grossartiges Buch zum literarischen Thema des Spazierens. Mit diesem vierten Roman Spaziergänger Zbinden findet Christoph Simon einen neuen Ton und wagt sich an die grossen Gefühle des Lebens heran. Wer je einen alten, gebrechlichen Menschen die Treppe hinunter begleitet hat, weiss, dass dies sehr lange dauern kann. Lukas Zbinden, dem 87-jährigen Protagonisten aus Christoph Simons Roman, reicht die Zeit gar, seinem Begleiter, dem Zivildienstleistenden Kâzim, alles über seine grosse Liebe Emilie und seine grosse Leidenschaft, das Spazieren, zu erzählen. Es ist ein stiller, feiner Roman, den man nicht verschlingt, sondern den man gemütlich angeht – wie einen Spaziergang eben.
Ganz anders und doch auch ganz Christoph Simon ist sein jüngstes Buch, das er wohl dem Schalk, der ihm jederzeit fest im Nacken sitzt, zu verdanken hat: In Viel Gutes zum kleinen Preis versammelt er Fragen («Wie pflegt man Feindschaften?», «Wie macht man Wellensittiche winterfest?»), märchenhaftes («Das Märchen vom Dichter und der Buchhändlerin»), einen philosophisch relevanten Fragenkatalog, an dem auch Max Frisch seine helle Freude gehabt hätte, seine vielgeliebten Cartoons und – nicht zu vergessen: die legendären Kinderbriefe an den Satan.
Viel Gutes zum kleinen Preis. Ein Sammelsurium. Bilgerverlag 2011
Spaziergänger Zbinden. Roman. Bilgerverlag 2010
Edward St. Aubyn
Edward St. Aubyn wurde 1960 in eine der bekanntesten Familien des englischen Hochadels geboren und wuchs in England und in Südfrankreich auf. Er ist Vater von zwei Kindern und lebt in Notting Hill, London. Er besuchte die Westminster School, eine der führenden britischen Knabenschulen, und das Keble College der University of Oxford.
Seine Romane spielen in der britischen Oberschicht, aus der St. Aubyn stammt. Der nun auch auf Deutsch erschienene Roman Zu guter Letzt vervollständigt das «Melrose-Quintett» um den Protagonisten Patrick Melrose. Dessen Anfang, Schöne Verhältnisse, ist auch das Buch, mit dem St. Aubyn hierzulande über Nacht bekannt wurde; es folgten Schlechte Neuigkeiten, Nette Aussichten und Muttermilch. Edward St. Aubyn spricht offen darüber, dass er mit dem Schreiben Erlebnisse seiner gewaltgeprägten Kindheit verarbeitet. In einem Interview mit der Zeit sagt der Autor: «Ich wollte das, was zweifelsohne eine schmerzhafte Erfahrung war, in ein vergnügliches literarisches Abenteuer verwandeln. Mir geht es um das Vergnügen mit dem Text, nicht darum, den Leser zu quälen.»
Die Snobs, Trinker, Pädophilen, Dummköpfe, Tyrannen und Abhängigen, die Edward St. Aubyns Bücher bevölkern, sind zugleich Ausgeburten unserer Zeit wie sie erschreckend zeitlos sind. Mit beissendem Sarkasmus bereitet der Autor seinen Lesern immer wieder jenes vergnügliche literarische Abenteuer, beispielsweise wenn er Patrick Melrose am Begräbnis seiner Mutter sagen lässt: «Der Tod meiner Mutter ist das Beste, was mir je passiert ist, seit... nun ja, seit dem Tod meines Vaters.»
Zu guter Letzt. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Hübner. Piper Verlag 2011
Muttermilch. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. DuMont Verlag 2009
Ausweg. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. DuMont Verlag 2010 (nicht Teil der «Melrose»-Reihe)
Ilija Trojanow
Ilija Trojanow, 1965 in Sofia geboren, floh mit seiner Familie 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland, wo sie politisches Asyl erhielten. 1972 zog die Familie weiter nach Kenia. Ilija Trojanow machte in Nairobi sein Abitur, übersiedelte nach Paris, studierte dann in München. 1989 gründete er dort den Kyrill-und-Method-Verlag, später den Marino-Verlag für afrikanische Literatur. Zehn Jahre später liess er sich in Mumbai, Indien nieder. Einige Jahre lebte er in Kapstadt, heute lebt er in Wien. Seine Bücher wurden in 17 Sprachen übersetzt.
Von den inneren Reisen in den äusseren Reisen handelt auch sein Roman Der Weltensammler. Es ist die Lebensgeschichte Sir Richard Burtons, ein farbiger Abenteuerroman, aber eben noch viel mehr. Dass Trojanow ein mitreissender Erzähler, Romancier und Essayist ist, hat er mit seinem Roman bewiesen.
Sein unerschütterlicher Glaube an die Kraft des Erzählens wirkt auch, wenn er in seinem jüngsten Roman EisTau von einem Mann erzählt, der auszieht, um für die Gletscher zu kämpfen.
Die NZZ fasst zusammen: «Dass Ilija Trojanow seine Arbeit als Schriftsteller (...) durchwegs als Reflexions-, Vermittlungs- und Aufklärungsaufgabe versteht, zeigen seine bisherigen Bücher. In kluger, umsichtiger und künstlerisch ausgereifter Form nimmt sich der Autor darin – sei es fiktional oder essayistisch – seiner Themen und kulturellen Fragestellungen an und erweist sich als literarisch unverzichtbarer Seismograf unserer (mehr oder weniger latent) explosiven Gegenwart.»
Die Literatur Afrikas begleitet Ilija Trojanow und er setzt sich stetig dafür ein, dass sie den ihr gebührenden Platz unter den Literaturen der Welt erhält. Nach Leukerbad reist er gemeinsam mit Chika Unigwe und Chirikure Chirikure an.
EisTau. Roman. Hanser 2011
Der Weltensammler. Roman. Hanser 2006
Die Welt ist gross und Rettung lauert überall. Roman. DTV 1999
Chika Unigwe
Chika Unigwe, geboren 1974 in Nigeria, schreibt Niederländisch und lebt in Belgien. 2009 erschien Unigwes Roman Schwarze Schwestern über vier nigerianische Frauen, die dem Versprechen von Wohlstand folgend nach Antwerpen kommen und sich hier prostituieren. Es ist das erste auf Deutsch erscheinende Buch der Autorin und Literaturwissenschaftlerin. Mit diesem Roman macht sie auf ein grosses gesellschaftliches Problem aufmerksam, das vielerorts noch als Tabu gehandhabt wird: die afrikanische Prostitution in Europa.
Fast dokumentarisch erzählt Chika Unigwe, die ihre Kraft aus einer klaren Sprache und einer geschickten Dramaturgie bezieht, von zerbrochenen Träumen und fehlgeleiteten Sehnsüchten. Die vier Frauen wandern aus Nigeria nach Europa aus, um sich und ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie bezahlen alle hart für dieses Ziel – eine sogar mit ihrem Leben.
Chika Unigwe hat ein leicht zu lesendes Buch zu einem wichtigen Thema geschrieben. Der Roman zeigt, wie aussichtslos die Lage vieler Frauen in Afrika ist, so dass sie den Schritt in die Prostitution bewusst gehen. Aber auch der generelle Druck der afrikanischen Familien, die Forderungen an die in der Fremde lebenden Familienmitglieder, immer wieder Geld zu schicken, werden deutlich. Die Wünsche der Familien steigen und können auf normalem Weg nicht oder nur unter grössten eigenen Einschränkungen finanziert werden – zu Hause interessiert niemanden, wie das Geld hier verdient werden muss.
Schwarze Schwestern. Roman. Aus dem Flämischen von Ira Wilhelm. Tropen Verlag 2010
Florian Vetsch
Florian Vetsch, 1960 geboren, hat sich nicht nur einen Namen als Herausgeber (z. B. des Ploog Tankers), als Essayist und Übersetzer gemacht, sondern er schreibt auch Gedichte, was er mit seinem ersten, 2002 im Rohstoff Verlag erschienenen Gedichtband Die Feuertränke eindrucksvoll unter Beweis stellte. Florian Vetsch lebt als Autor, Übersetzer, Herausgeber und Lehrer mit seiner Familie in St. Gallen.
Mit Boris Kerenski hat Florian Vetsch 2004 den besonderen und eindrucksvollen Band Tanger Telegramm herausgegeben. Tanger, die legendäre marokkanische Stadt, dieser Schmelztiegel der Kulturen und Religionen, dem die Präsenz extremster Gegensätze einen ambivalenten Charme verlieh, war einst ein Sammelbecken für Abenteurer, Exzentriker und Aussteiger. Zahlreiche Schriftsteller zog sie in ihren Bann – unter ihnen Gertrude Stein, Tennessee Williams, Paul Bowles und William S. Burroughs. Tanger ist ein Ort voller Geschichten, die so bizarr und überbelichtet, so rätselverwoben und unfassbar sind, wie die Stadt an der Meerenge von Gibraltar selbst.
Im letzten Jahr erschien ein zweites Buch zu Tanger: Tanger Trance. Diesen fulminanten Bildband hat Florian Vetsch mit der Fotografin Amsel zusammengestellt; er zeigt Tanger in der heutigen Zeit. Durch das Zusammenspiel der Texte von Florian Vetsch und dem Vorwort von Abdelwahab Meddeb mit den Bildern von Amsel ist ein eindrucksvolles und eigenständiges Werk entstanden. (Siehe auch Tanger Trance)
Round & Round & Round. Hadayatullah Hübsch und Florian Vetsch. Ein Gedichtzyklus. Songdog Verlag 2011
Tanger Trance. Fotos: Amsel. Texte: Florian Vetsch. Mit einem Vorwort von Abdelwahab Meddeb. Sprachen: Deutsch, Französisch, Englisch, Arabisch. Benteli Verlag 2010
Tanger Telegramm. Reise durch die Literaturen einer legendären marokkanischen Stadt. Hrsg. zusammen mit Boris Kerenski. Bilgerverlag 2004. Aktuell vergriffen, Neuauflage geplant.
Liao Yiwu
Liao Yiwu wurde 1958 in der Provinz Sichuan, Westchina, geboren. In den achtziger Jahren avancierte er zu einem der bedeutendsten Avantgarde-Dichter Chinas. Eine Vielzahl seiner Texte veröffentlichte er in inoffiziellen Periodika und Underground-Anthologien. Mit wachsender Bekanntheit konnte Liao Yiwu immer öfter auch in offiziellen Literaturzeitschriften publizieren. 1987 wurde er nach Erscheinen seines umfangreichen Epos si cheng (Stadt des Todes), das Kritik an der Kulturrevolution äussert, Opfer einer politischen Kampagne. Doch er weigerte sich, Selbstkritik zu üben und mit dem Schreiben aufzuhören. 1989 erschienen erneut kritische Schriften in offiziellen Magazinen. Als Liao Yiwu schliesslich Gedichte verfasste, in denen er die Niederschlagung der demokratischen Bewegung in der Folge des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens schilderte, wurde er für vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt. 1994 wurde er auf internationalen Druck hin fünfzig Tage vor Ablauf seiner Haftstrafe entlassen.
Nachdem sich seine Familie und Freunde von ihm abgewendet hatten, fristete er sein Dasein als Strassenmusiker und nahm Jobs aller Art an. Erfolglos versuchte Liao Yiwu in China zu publizieren. Derart an den Rand der Gesellschaft gedrängt, fand er zu einer neuen Form des Schreibens und aus seinen Erfahrungen entstand sein Werk Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten. Das Buch erschien in den Vereinigten Staaten und Europa und machte ihn hier auf einen Schlag zu einem der bekanntesten Literaten Chinas. Der Autor ist mit verschiedenen Literatur- und Menschenrechtspreisen ausgezeichnet worden. Momentan lebt Liao Yiwu in Berlin, wo er sich 2012 als Gast des DAAD aufhält.
Massaker. Frühe Gedichte. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. hochroth Verlag 2012
Für ein Lied und hundert Lieder. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. S. Fischer Verlag 2011
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder. S. Fischer Verlag 2009